VORWORT
Geplant war es sicher nicht, dieses Vorwort; aber dann: was ist in unserem
Leben schon geplant?
Geplant war zum Beispiel, dass ich das vorliegende Werk
(ein 'unschuldiges' Tagebuch, wenn ich so sagen darf) auf dem herkömmlichen Weg
dem geneigten Publikum (und einer geeigneten Kritik) vorstellen würde; und der
herkömmliche Weg sieht vor, dass man sich gefälligst - mit Manuskript und der
Empfehlung eines literarischen Agenten (der das Werk auch entsprechend und gegen
ein Entgelt überarbeitet) - an einen etablierten ehrwürdigen Verlag wendet mit
der Bitte, dieser möge in einer freien Stunde - oder auch Viertelstunde -
zumindest einen Blick werfen auf die eingesandten Manuskriptseiten, die der
Verfasser (sprich ich der Autor) in mühsamen Wochen und Monaten zu Papier
getragen hat. Resultat? Denkste!
Resultat gleich Null! Nach zwei Jahren der
Suche und einer eher einseitig gelagerten Korrespondenzführung mit insgesamt
weit über fünfzig altehrwürdigen wohletablierten (zum Teil aber durchaus auch
jüngeren, modern sich gebenden) Verlagen steht fest: niemand will mein armes
Tagebuch verlegen!
'Das ist zu anspruchsvoll', 'das ist zu hohe Literatur',
'das ist alles viel zu kompliziert' - 'und zudem passt es nicht in unser
aktuelles Programm - ganz abgesehen davon, dass wir für die nächsten paar Jahre
voll ausgebucht sind': meine Hosen wurden kurz und kürzer - bis ich nolens
volens, ob ich wollte oder nicht, schliesslich mit völlig abgesägten Hosenbeinen
(bis vor das Schambein gleichsam) vor der vollendeten Tatsache stand, dass mein
Manuskript zwar, nach leidvollen Wehen, das Licht der Welt erblickt hatte - aber
niemals das freundliche Auge (dein freundliches Auge, lieber Leser) eines
geneigten Publikums erhaschen würde.
Liess ich mich entmutigen? Die Frage
liegt nicht hier.
Sondern sie liegt vielmehr hier: gibt es bei uns, im
sogenannt freien Westen, eine Art inoffizielle Zensur - und wie funktioniert
sie? Wie lässt sie sich mit dem landläufig doch so hoch in Ehren gehaltenen
Prinzip der freien Meinungsäusserung vereinbaren, wenn ein Schriftsteller durch
einen Akt der Nicht-Veröffentlichung mundtot gemacht wird?
Natürlich sind es
rein wirtschaftliche Überlegungen, die einen Verleger veranlassen, ein Werk zu
veröffentlichen oder eben nicht. Und dieser Entscheid wird von der
vorherrschenden Publikumsgunst diktiert, die sich in der Regel nur mit enormen
Werbemitteln umpolen und erkaufen lässt. So verwundert es nicht, wenn der
Verleger jedes Risiko scheut, Geld für die Publikation eines Werks zu verwenden,
das vielleicht der subjektiv empfundenen "Erwartungshaltung" seiner Kundschaft
nicht entspricht.
Und so murkst er eben all das ab, was in seinen Augen quer
zur literarischen Landschaft liegt. Er betätigt sich als Zensor vor dem
Publikum, dem er die Befähigung für ein selbständiges Urteil abspricht - wie wir
das von jeder banalen Diktatur her kennen. Er bewahrt die etablierte Ordnung
einer Marktwirtschaft, die keinen Platz hat für querdenkende oder
querschreibende Aussteiger.
Dabei übersieht er, dass von der Natur her jeder
Künstler ein Querdenker und Aussteiger ist, der sein Handwerk dafür verwendet,
die Mängel der Gesellschaft und der Welt in der er lebt aufzudecken, auf seine
Weise darzustellen und sie gleichzeitig in der Utopie seiner Kunstwelt zu
überwinden. Wehe der Gesellschaft, die keine Künstler mehr braucht: sie hat sich
ein Paradies erschaffen!
Da ich nun nicht der Meinung bin, dass sich die
Menschheit ihr Paradies auf Erden bereits erschaffen hat - dass es mithin noch
ein bescheidenes Plätzchen geben sollte für einen zuversichtlichen Künstler, der
den Traum von einer besseren Welt weiterträumt - und da ich der zusätzlichen
Meinung bin, dass noch viele Tausende von Menschen, die sich nicht Künstler
nennen, nichtsdestoweniger den Glauben und einen festen Willen besitzen, dass
die Menschheit "aussteige" und den Weg in eine glücklichere Zeit begehe -, liess
ich mich von den zahlreichen Absagen nicht entmutigen und suchte nach Mitteln
und alternativen Möglichkeiten, mein Werk dennoch zu veröffentlichen: die Zensur
sollte nicht das letzte Wort behalten.
In der Folge habe ich nolens volens,
gegen meinen Willen und mit dem Rücken zur Wand beschlossen, einen eigenen
Verlag zu gründen, den ich HEINRICH nenne - in Erinnerung an jenen anderen
Aussteiger, der sich auf den Weg machte nach fremden Gestaden, um daselbst die
Fragen unserer Zeit und unseres Lebens zu erkunden. (Dass ich dabei den
geschlossenen Widerstand und eine ebenso aufdringliche wie herablassende
Belehrsamkeit der "Buchbranche" provozieren könnte, kam überraschend und war
ungewollt; der Umstand sei hier nur im Sinne einer Anektote nebenbei bemerkt.)
Geplant war es nicht - aber jetzt hältst du die Frucht meines Unterfangens
in Händen, lieber Leser, und dir - dir allein! - soll es zustehen, über Wert
oder Unwert dieses Buches zu urteilen.
Damit wünsche ich dir viel Spass bei
der Lektüre und lade dich ein, Renz auf seine Reise nach Kukaburu zu begleiten.
Wenn du mir dabei über deine Eindrücke berichten willst, so sind deine Zeilen
stets willkommen - es wird mir ein Vergnügen sein, dir in geeigneter Form zu
antworten.
Peter Kasser
Januar 1995
Ich schreibe,
Du schreibst,
Er schreibt.
Wir schrieben.
Ihr
werdet schreiben.
Sie sollten geschrieben haben.
Lawrence Veumier.
Mein Name ist: Veumier, Lawrence.
Lorenz. Renz.
Larry.
Mein Name ist: mein Name sei: - sei er.
Mein Name ist ein guter Name.
Er namt.
Ich name, du namst, er namt.
Ich namt' einen guten Namen, einen bess'ren findst du nicht.
Ich schreibe auf einer Schreibmaschine.
Hier: H - i - e - r.
Das habe ich geschrieben.
Was soll ich schreiben?
Ich schaue, was
sich hier so schreiben lässt.
Es ist eine gute Schreibmaschine, auf der ich
schreibe.
Also:
Lawrence Veumier
Gartenstrasse 87
Zürich, Schweiz,
Europa, Erde, Sonnensystem, Milchstrasse, lokale Gruppe, Virgo-Haufen,
Universum, All, Ausserall -
Aus.
Ausland.
Australien.
Australopithecus.
Es ist die Ansicht der Anthropologen, und der Ethnologen, und jene der übrigen Gelehrten, dass die australischen Eingeborenen, genannt Aborigines, Vertreter der ältesten überlebenden menschlichen Rasse sind. Sie stellen den Steinzeitalter-Typus dar und jagen mit dem Bumerang: Bum!
Australien.
Ich lebe in Australien, im Land der Bumerangs. In Westaustralien, genannt Wildblumen-Staat. In Perth, genannt Lichterstadt - auch genannt Stadt der schwarzen Schwäne und der weissen Meeresstrände. An der Springfieldstrasse-nicht-anders-genannt, im achtzehnten Haus, rechts, die steile Holztreppe hinauf, nochmals rechts, hier, bitte eintreten, willkommen, hier bin ich, ich bin da so am Schreiben...
Also, ich bin hier. Ich bin in meiner Wohnung.
Meine Wohnung ist eine lausige Wohnung. Ihre Lausigkeit verteilt sich auf zwei Teile: auf die eigentliche Wohnung - und auf das Zubehör. Das Zubehör befindet sich draussen auf der Diele und besteht aus einem kommunalen WC-Häuschen und einer kommunalen Dusche - hinten, an der Steiltreppe vorbei, mit Aussicht hinaus auf den kleinen verwilderten Garten im Hof. Die eigentliche Wohnung, die ist hier, und sie besteht, gleich nach der Eingangstür, aus einem grossen Küchenzimmer und, nebenan, aus dem kombinierten Wohn-Schlafzimmer, wo ich jetzt schreibe, und wo ich wohne und schlafe und lebe und überhaupt generell bin.
Schlafen, Wohnen, Leben. Leben und Sterben. Der Tod. Der Schlaf.
Essen,
Trinken, Rauchen, Spielen, Tanzen, Ficken, Furzen - Leben.
Schreiben.
Meine Schreibmaschine steht auf dem runden Sofa-Tischchen, wo es noch Platz
hat für meine Zigaretten und einen Aschenbecher sowie für ein Glas Portwein
-
aber nicht für die Flasche, die dafür nebenan auf dem Boden steht. Hier
ist die
Wohnhälfte: mit dem Kleiderschrank und den Alkoholflaschen und der
Musikanlage - und mit dem Bild an der Wand, welches das Panorama der Schweizer
Alpen im Winter darstellt.
Links drüben ist die Schlafhälfte: mit einem Bett - sogar einem Doppelbett - und einer Kommode mit Kippspiegel - und mit einem roten Pin-up an der Wand, das ins Bett hinuntergrinst und ein Playgirl mit einer Goldfisch-Bowl vor ihren breiten, nackten Lenden zeigt.
Ganz hinten, quer hinter dem Bett, schliesst ein Fenster gegen die Strasse und den kalten, australischen Winter hinaus ab. Still ist's draussen. Bald ist Mitternacht.
Hier drin ist es auch still. Ab und zu tippt's holprig und verstohlen auf der Schreibmaschine vor mir: tip, tip, tipi-tipi-tip! - und dann ist's wieder ruhig. Und kalt. Gegen die Kälte habe ich den Heizkörper eingesteckt, dessen Drähte mir nun entgegenglühen. Dazu rauche ich französischen Tabak, höre Musik, trinke australischen Wein -
Sonst jedenfalls bin ich allein, allein in meiner lausigen Wohnung. Irgendwann kommt noch Martin, mein chinesischer Schmarotzer, der abends in einer Kneipe bedient. Dann nimmt er die hintere Matratze vom Bett und wirft sie vor dem Sofa-Tischchen auf den Boden und legt sich drauf, um den Rest der Nacht durchzupennen - und dann ist wieder ein Tag vergangen.
Was soll ich tun?
Heute ist Sonntag. Ein guter Tag. Ein lausiger Tag.
Ein Tag aller Tage -
Tag ein, Tag aus.
Ich tue, tu tust, er tut.
Tut-tut.
Ist da jemand vorgefahren? Hat da jemand gehalten?
Ich schau mal nach.
Nein. Niemand. Nur vorbeigefahren.
Was tun, fragt sich: was ist zu tun in einer solchen Lage. An wen soll man
sich wenden?
Soll man wohin gehen. Womit soll man anfangen. Hat das Ganze
einen Sinn?
Lohnt sich auch nur zu fragen.
Was tun?
Ich fragte
Martin; der wollte sich vollsaufen. Ins Kino wollte er nicht gehen. Er hätte
sich den Kittel angezogen, um sich vollzusaufen - nicht, um ins Kino zu gehen.
Ob ich mitkomme?
Ich ging zu Anita, doch sie war nicht zu Hause. Chapong,
der wollte studieren. Dann ging ich zu Ismael - und der, hiess es, sei mit Trixy
ausgegangen. Nwafo hinwieder war im Begriff, sich in die Uni-Bibliothek zu
begeben.
Jetzt bin ich wieder hier.
Und frage mich: wohin soll ich
gehen. Was soll ich tun?
Auf dem Reisebüro gab man mir Broschüren.
Ich muss weg. Weg von hier, weg
von der Uni, weg von Perth. Irgendwohin. Zurück in die Schweiz.
Und was soll
ich dort tun? Was soll ich dort tun, was ich hier nicht tue?
Das daure
manchmal Wochen, meinte sie im Reisebüro, bis so ein Visum eintrifft. Da lohne
es sich schon, den Zeitpunkt und die Route genau vorzuplanen.
So gesehen,
hätte ich mit meinem Austritt aus der Uni ruhig zuwarten können.
Soll ich
weiterstudieren?
Ich könnte Mrs Goodwyn fragen, die weiss doch sonst alles.
"Lawrrrence," sagt sie zu mir und rollt das "R" länger, damit es
fremdländisch klingt: wenn das Problem ein finanzielles sei, dann möchte ich das
mit ihr doch diskutieren.
Das hat sie mir geschrieben.
Das Problem
jedoch ist eher: soll ich schreiben; und das möchte ich nicht mit Mrs Goodwyn
diskutieren.
Wenn schon, dann mit Walter. In meinem letzten Brief habe ich
ihn gebeten, er möchte mir doch eine Stelle finden - in Zürich oder irgendwo -
als Englischlehrer etwa, oder so -
Das würde das Problem der finanziellen
Seite lösen. Er müsste mir das Reisegeld vorstrecken - aber das liesse sich dann
wieder abzahlen, das wäre kein Problem.
Oder ich könnte auch hierbleiben und
hier einen Job suchen. Als Deutschlehrer etwa.
Die Finanzen sind nicht das
Problem.
Fragt sich nur, ob es richtig ist, alles so überstürzt abzubrechen?
Wäre ja zumindest besser, einen Abschluss vorzuweisen.
Und wenn schon
zurück: warum nicht ein paar kurze Stops einbauen, statt auf direktem Weg
zurück?
Ich könnte hier arbeiten - so wär ich unabhängig?
Letzte Woche
bat ich Ismael um Rat. Er verweigerte ihn mir, mein Busenfreund. "Du befolgst
ihn ja doch nicht," meinte er. "Ich hatte dir geraten, weiterzustudieren - und
du bist ausgetreten."
Dafür lud er mich zum Essen ein.
In der Folge habe
ich nun einen Termin, indem ich beim College-Essen auf Ranthir stiess - und
Ranthir versprach, er komme bei mir vegetarisch Curry kochen. Das war damals
noch Hassans Idee gewesen - "ein Mann der grossen Worte, nicht
der Tat!" wie
Ranthir trefflich (wenngleich etwas hitzig) bemerkte.
Und bis dann? Was tun bis dann!
Ich muss dieses Buch schreiben.
Wo.
Wann. Wie.
Ich muss da Klarheit schaffen. Sicher ist: ich muss hier weg,
fort, an die Wärme. Hier ist es mir zu kalt - und in der Schweiz ist es noch
kälter.
Ich muss mir die nächsten Schritte überlegen. Ich muss wissen, wie
es weitergehen soll.
Seltsam, wirklich seltsam, wie es einem im Leben so ergeht. Da lebt man
drauflos, alles erscheint logisch, zwingend, unausweichlich - und eines Tages
steht man da und merkt, dass man gestrandet ist, dass man sich irgendwo geirrt
hat. Und schon geht es nicht mehr weiter.
Und plötzlich ist man allein. Und
man weiss nicht, was tun.
Es gibt nichts mehr zu tun. Ich warte,
warte, warte - worauf? ich weiss es nicht.
Und noch immer tut sich
nichts.
Nun habe ich die Hoffnung aufgegeben, dass sich je noch etwas tut.
Das Mass der Wahrscheinlichkeiten ist erschöpft.
Dienstag, 1. September
Martin war stockbesoffen, als er gestern um zwei heimkam. Ich hatte noch
längere Zeit an der Schreibmaschine gesessen und mich später aufs Bett gelegt,
um Reisebroschüren zu studieren, als ich hörte, wie draussen das Taxi vorfuhr.
Martin stieg aus und bedankte sich umständlich beim Chauffeur; dann schlug er
die Autotür zu und arbeitete sich die Holztreppe hoch, während ich seine
Matratze vom Bett zerrte und sie auf den Boden legte, zwischen Bett und
Sofa-Tischchen, dort, wo er jede Nacht pennt.
Martin trat ein und schlug die
Küchentür zu. Dann angelte er sich den Türrahmen entlang ins Wohnzimmer und sah
sich aus kleinen, chinesischen Äuglein im Zimmer um, so als suchte er irgendeine
Veränderung darin. Dazu liess er wie zum Zeichen tiefster Trauer seine Backen
herunterhängen. Mit seinem prall gefüllten Ranzen sah er wie ein beduseltes
Elefantenbaby aus.
"Weisst du was?" fragte er schliesslich in dramatischem
Ton.
"Nein," sagte ich, und ich meinte es ehrlich.
"Sie haben uns aus
dem 'Trendy' geworfen!"
"Nein!"
"Doch!"
"Das ist schlimm!"
"Ha!
zu sechst waren sie!" rief er entrüstet. Er schob sich vom Türrahmen weg und hob
mit beiden Händen insgesamt sechs Finger in die Höhe. "Sechs Rausschmeisser
standen um unseren Tisch herum und wollten uns rausschmeissen!" Mit unsicherem
Schritt trat er ins Wohnzimmer.
"Und? Haben sie euch rausgeworfen?"
"Ja,
aber wir gingen nicht sofort; erst mal tranken wir unser Bier aus." Er liess
sich auf die Matratze fallen, die ich ihm auf dem Boden zurechtgelegt hatte.
"Mit wem warst du denn überhaupt?"
"Mit Stephen und Miung."
"Und
weshalb wollten sie euch rauswerfen?"
"Weil wir nicht zwölf Dollar für den
Eintritt bezahlen wollten. Glauben die eigentlich, wir sind belämmert? Zwölf
Dollar, nur um reinzukommen?"
"Wie seid ihr denn trotzdem reingekommen?"
"Von hinten, durch den Service-Eingang. Stephen kennt ihn noch von früher."
Er begann sich auszuziehen, und ich räumte die Reisebroschüren zusammen.
Ich hatte unrecht gestern, als ich ihm wegen seiner Sauftour Vorwürfe
machte. Zumindest geht er regelmässig einer Beschäftigung nach, während ich
meine Tage mit Nichtstun verbringe. Und wenn er hinter der Bar serviert, lernt
er jede Menge Leute kennen, über die er mir jeweils nach Feierabend erzählt -
wie sollte ich ihm da eine kleine Abwechslung verwehren?
"Sag mal, willst du
Selbstmord begehen?"
"Nein, danke. Wie kommst du darauf?"
"Wegen deinem
Messer dort."
Martin grinste und zeigte auf das Küchenmesser. Es lag neben
der Schreibmaschine auf dem Sofa-Tischchen.
"Ich habe mir eben eine Orange
geschält, okay? Und du, trägst du etwa suizidale Absichten unter deinem Busen?
Dann muss ich dich bitten, es draussen zu tun. Ich will hier keine Schweinereien
im Haus."
"Ja, stell dir vor, einmal habe ich es tatsächlich versucht."
"Wirklich?"
"Da, schau!" Er streckte mir seinen linken Arm entgegen. Ich
sah nichts.
"Ich wüsste nicht einmal, wo ich schneiden müsste."
"Komm
her, ich zeig's dir!" Er wies auf die Innenseite seines Handgelenks.
"Siehst du diese Narbe da? Wenn du hier durchschneidest, triffst du die
Schlagader. Wenn du nebenan schneidest, blutest du nur ein paar Stunden."
"Das muss aber schmerzhaft sein, was?"
Er zuckte die Schultern. "Es
geht."
Ich setzte mich auf den Polstersessel neben dem Sofa. Seine
Selbstmord-Story schien vielversprechender als die Rausschmeisser-Story.
"Wie lange ist das her?"
"Oh das, das ist schon lange her."
"Da
warst du in einer echt miesen Stimmung, nicht?"
"Ja, so ungefähr."
"Das
kann ich mir vorstellen!"
"Ich war sogar bei einem Psychiater."
"Was
wollte denn der?"
"Nichts. Er gab mir ein paar Tests und sagte, ich solle in
einer Woche wiederkommen. Aber ich hatte genug. Fünfzig Dollar wollte der Typ
für eine einzige Unterredung - dabei konnte ich noch nicht mal liegen! Hier!" er
tippte sich auf die Stirn, "ich bin doch nicht bescheuert!"
"Ja, aber was
wollte er denn überhaupt?"
"Oh, er stellte verdammt viele Fragen - aber
sonst sagte er nichts."
"Und was sagtest du selbst?"
"Oh, nicht viel.
Ich hatte finanzielle Probleme - deshalb ging ich auch nicht mehr zurück."
"Und weshalb gingst du das erstemal?"
"Mein Arzt hat ihn mir empfohlen."
Es war nicht leicht, ihm die Würmer aus der Nase zu ziehen. Aber
schliesslich erfuhr ich soviel, dass er zu Beginn des Jahres aus der Uni
ausgeschlossen worden war, da er weder die Jahresprüfung noch die Nach-Prüfung
bestand. Seine Eltern hatten ihn daraufhin aufgefordert, unverzüglich nach
Malaysia zurückzukehren, doch er wollte unbedingt in Australien bleiben, um Geld
zu verdienen. Aber anstatt viel Geld zu verdienen verlor er bei den Pferderennen
fast zweitausend Dollar.
"Und da fiel dir nichts Besseres ein, als zum
Psychiater zu rennen?"
"Ich sagte dir ja: mein Arzt hat ihn mir empfohlen."
"Du littst an - lass mal sehen - an einem Minderwertigkeitskomplex! Ach
Martin, das ist zu komisch! Und jetzt hast du wohl wieder einen Komplex, weil du
definitiv heimkehren musst?"
"Blödsinn!"
"Aber damals?"
"Blödsinn!"
"Und dann zu verzweifeln und zu einem Psychiater zu rennen! Wärst du zu mir
gekommen - ich bin ein besserer Psychiater als jener Fünfzig-Dollar-Typ. Bei mir
brauchst du nichts zu bezahlen und liegst ausserdem noch bequem auf einer
Matratze."
"Für dich ist es auch leicht. Du kennst mich seit langem."
"Trotzdem bin ich besser." Ich musste auf die Toilette.
"Bluffer!"
"Von wegen Bluffer! Darf ich dem Patienten denn eine Tasse
Kaffee offerieren?"
"Ja, gern."
Ich ging in die Küche und schloss den
elektrischen Sieder an. Als ich von der Toilette zurückkam, war Martin
eingeschlafen. Er schlief immer sehr rasch ein -
und dann weckte ihn nichts
wieder auf bis spät in den folgenden Morgen.
Er lag auf der Seite, noch halb
in den Kleidern, mit dem Kopf weit nach hinten gestreckt. Aus dem halboffenen
Mund schauten zwei breite, rattenähnliche Schaufelzähne heraus; sie sahen
niedlich aus. Fett und plump lag er da - bald würde er zu schnarchen beginnen.
Ich beneidete ihn. Aber ich hatte versäumt, ihn über die Details seines
Selbstmords zu befragen.
Ach ja, Martin: Martin will ein Buch schreiben. Das hat er mir erst kürzlich
anvertraut. Wie wir draufgekommen sind, weiss ich nicht mehr.
Martin und ein
Buch schreiben! Das ist wie ein Elefant und auf dem Seil tanzen!
Aber recht
hat er. Es ist immer gut sich vorzunehmen, ein Buch zu schreiben; auch wenn mich
dies von Seiten Martin ein wenig überrascht.
Natürlich fragte ich ihn,
worüber er denn zu schreiben gedenke; und er meinte, über die Leute, die er in
Australien so kennengelernt hätte, da seien etliche Originale darunter - und
schliesslich habe er ja auch allerhand erlebt.
Nun glaube ich, dass er über
seine Krise von damals und über seinen Selbstmordversuch schreiben will.
Eines könnte ich ihm jetzt schon sagen: aus diesem Buch wird nichts. Mit
einem Buch rechnet man nicht mit der Vergangenheit ab. Allenfalls mit der
Gegenwart, ja, aber nicht mit der Vergangenheit.
Aber was kümmert's mich.
Und so unrecht hat er ja nicht. Ist es doch besser, in der Hoffnung zu leben als
in den dunklen Flecken der Erinnerung.
Wenn Anita heute Abend wieder nicht kommt, werde ich sie nicht mehr besuchen.
Soll sie doch zu mir kommen, wenn ihr etwas an mir liegt!
Hoffentlich kommt
sie. Ich gehe nicht gern allein aus.
Mittwoch, 2. September
Da sitze ich nun also wieder, ich armer Tor, und habe, wie zuvor, eine
Schreibmaschine vor mir stehen, auf der ich nichts Kluges zu schreiben weiss.
Was habe ich mir da bloss eingebrockt?
"Um etwas zu tun, schreibe ich.
Ich schreibe auf einer Schreibmaschine. Die Schreibmaschine steht auf einem
kleinen runden Sofa-Tischchen. Ich sitze auf einem Sofa vor dem kleinen runden
Sofa-Tischchen, und um etwas zu tun, schreibe ich..."
...WAS?
Ich weiss
es nicht. Aber zumindest habe ich etwas zu tun.
Wenn ich nichts tue, gehe
ich dort hinüber zum Bett und lege mich hin und starre hinauf zum nackten
Pin-up-Girl an der Wand - und dann?
Wenn ich hingegen schreibe, sitze ich
hier auf dem Sofa vor dem kleinen runden Sofa-Tischchen - und von hier aus kann
ich mir die ernsten Schweizer Alpen anschauen, oder ich kann mir ein Glas
Portwein einschenken, oder mir eine französische Zigarette anzünden, oder eine
Schallplatte auflegen, auf dass die Musik das Klappern der Schreibmaschine
übertöne -
Wenn ich schreibe, tut sich wenigstens etwas.
Nur: wenn man
nichts zu schreiben weiss - so wie jetzt zum Beispiel...
DONNERWETTER!
Wie weit darf man wohl gehen im Verwünschen seiner Schreibmaschine? Ist es
denn ihr Fehler, dass sie so laut klimpert - und dass sie die halbe Zeit
überhaupt nicht klimpert?
Aber auf irgendwen, irgendwas muss sich die
Langeweile doch entladen!
Donnerwetter! war nicht stark genug vorhin. Es
tönt zu mager. Verdammte Scheisse! tönt besser - aber es liest sich schlecht.
Ich muss auf meinen Stil achten.
Seltsam: da habe ich vor ein paar Tagen
begonnen, einfach so vor mich hin zu schreiben, wildes Zeug, frisch von der
Leber - wie jetzt - (dabei hatte ich durchaus einen Grund: ich wollte das
Schreibmaschinenschreiben lernen - oder genauer: statt ewig auf zwei Fingern zu
schreiben nahm ich mir vor, das Zehnfingersystem zu erlernen: damit sich das
Schreiben wirtschaftlicher auf die Finger verteilt) -, und jetzt sitze ich also
schon ein paar Tage hier, zwar im Vorsatz übenderweise, dennoch und
offensichtlich schon von einem gewissen Ehrgeiz getrieben, mehr und anders zu
schreiben als das, was sich eher willkürlich als vages Gedankengut so
präsentiert - und da merke ich: diese Übung nimmt nicht den geplanten Lauf.
Das liegt wohl einerseits daran, dass ich das ursprüngliche Vorgehen der
spontanen Niederschrift schon überschritten habe; zum anderen musste ich
allerdings schmerzvoll erfahren, wie schwierig es ist, flüchtiges "Gedankengut"
in Schrift und logischen Sentenzen zu verfestigen: entweder verselbständigen
sich die Gedanken zu unhaltbaren, verwässerten Traumbildern - oder sie versiegen
schlechtwegs; beides ist jedenfalls einer planvollen Absicht äusserst
abträglich.
Und nun also schickte ich mich eben an zu fragen, inwieweit ich
selber Einfluss auf den Gang meiner Gedanken, auf die Richtung ihrer Entwicklung
nehmen wollte - da beschloss ich, mir die Sache in ihrer ganzen Komplexität
später nochmals intensiv zu überlegen, mich aber einstweilen ins Weinhaus
nebenan zu begeben, um daselbst ein Gläschen Portwein mir zu quicker
Gaumenfreude zu genehmigen.
Es liegt nicht weit von hier, und es ist recht gemütlich, wenn man in einer
Gruppe kommt. Nur war ich heute eben allein, und ich fühlte mich elend mit
meinem heiseren Hals, der mich schon seit ein paar Tagen quält.
Rose, die
Barmaid, staunte nicht schlecht, als sie mich sah, wie ich da mitten am
Nachmittag und erst noch alleine daherkam. Und dann konnte sie meine Bestellung
kaum verstehen, so furchtbar hatte meine Erkältung inzwischen meine Stimmbänder
angegriffen. Schliesslich schenkte sie mir ein Glas Weisswein ein. Dann besann
sie sich aber, entfernte den Weisswein wieder und stellte stattdessen ein Glas
Marsala vor mich auf die Theke.
Zuerst wollte ich nichts sagen. Aber dann,
um trotzdem und überhaupt etwas zu sagen, fragte ich, was sie mir denn da
aufgetischt hätte?
Sie schaute auf das Etikett, errötete und sagte:
"Entschuldige, ich habe mich in der Flasche geirrt!" Und nachdem sie mir endlich
meinen bestellten Portwein serviert hatte, wandte sie sich den anderen Gästen
zu.
Und dann hing ich völlig idiotisch allein an der Bar rum, trank Portwein
und dachte an meine Wohnung und ans Schreiben, sah den anderen Gästen zu, wie
sie im Raum herumstanden und aus ihren Gläsern tranken und sich nicht komisch
dabei vorkamen - schliesslich schlich ich mich hinaus wie ein Schuldiger - dabei
war ich einmal der erste Stammgast hier!
Wie dem auch sei: jetzt sitze ich wieder hier. Ich kann ebensogut hier
Portwein trinken und hier Musik hören, und rauchen kann ich auch - Heiserkeit
hin oder her - also, was soll's?
Oh Gott! Zuletzt beginne ich noch mich
einsam zu fühlen! Es ist nicht gut, allein zu sein!
Insofern leistet mir
meine Schreibmaschine willkommene Gesellschaft. Ich kann auf ihr herumtippen,
wenn ich will - und wenn ich nichts mehr zu schreiben weiss, sitze ich trotzdem
da, direkt vor ihr, und nehme einen Schluck Portwein oder zünde mir eine
Zigarette an - und dann tippe ich vielleicht wieder ein paar Zeichen mit dem
Zeigefinger (mit dem rechten: er ist stärker als der linke), während ich das
Glas Portwein und die Zigarette in der Linken halte - dabei schaue ich hoch und
erblicke die Alpen - und dann brauche ich einen grösseren Schluck Portwein - und
plötzlich fluten die Schreibideen nur so herein, und ich stelle das Weinglas ab
und schiebe die Zigarette in den linken Mundwinkel und schreibe mit zehn
Fingern, um der Ideenflut Herr zu werden - : so fülle ich die Blätter und wärme
die Finger und vertreibe mir die Zeit mit einer glaubhaften Beschäftigung, die
vielleicht sogar für einen Aussenstehenden einen möglichen Sinn ergibt.
Jetzt aber fühlen sich die Finger steif an, und das Schreiben schleppt sich
mühsam dahin. Es ist zu kalt in meiner Wohnung. Zudem bin ich es nicht gewohnt,
mit zehn Fingern gleichzeitig zu schreiben: es ist verwirrend und lenkt ab.
Bald haben wir Frühling. Im Frühling werde ich mehr Gelegenheit haben, mit
zehn Fingern zu schreiben. Und im Frühling wird es wärmer sein.
Doch wie
verbringe ich die Zeit bis zum Frühling? Soll ich zurück ins Weinhaus?
Nicht
einmal Edwin der Manager hatte Zeit für einen kurzen Schwatz gefunden.
Augenzwinkernd lief er mit seinem schiefen Grinsen und der sorgfältig gezogenen
Scheitel von Tisch zu Tisch und erkundigte sich nach jedermanns bestem Befinden:
ein schlauer und gerissener Typ, dieser Edwin, und sehr beflissen, wenn es ums
Geschäftliche geht. Heute war ich ihm fast dankbar, dass er mich nicht
anquatschte und in Ruhe liess.
Ich rauche zuviel. Dieser Tabak, der mir zu
stark ist, der aber aus Europa kommt und hier kaum bekannt ist und dazu
fürchterlich stinkt, er schlägt mir auf den Hals.
Vielleicht liegt es auch
nur am Wetter. Es ist zu kalt in diesem Land.
Möglicherweise habe ich mir
eine Erkältung zugezogen? Verwundern würde es mich nicht. Ich sollte mir wärmere
Kleider kaufen: wollene Hemden, vielleicht eine Jacke, ein paar sportliche
Hosen.
Im Fall einer Erkältung: sollte ich da nicht eher Rum trinken? Rum
wärmt eher als Portwein. Zudem wirkt er desinfizierend, wenn der Hals entzündet
ist.
Das liesse sich in einem Spiegel feststellen.
Oder sollte ich
besser Halstabletten lutschen?
Zum Teufel mit dem Hals!
Jedenfalls gehe
ich nicht wieder ins Weinhaus. Allein ohnehin nicht. Eher bleibe ich hier vor
meinen leeren Blättern sitzen. Die vollzukriegen ist mein eigentliches Problem.
Die ganze Schreiberei kennt nämlich ihre Tücken. Da muss man erst einen
brauchbaren Gedanken haben, bevor man etwas niederschreiben kann - und wenn es
einmal soweit ist - ja, dann ist auch das eher gesagt als getan: eher gedacht
als geschrieben.
Man kann nämlich auch zuviel denken. Und wenn es dann ans
Niederschreiben geht, hat man leicht den Faden verloren und muss wieder
zurückdenken, um all das Gedachte neu von Anfang an zu rekonstruieren und den
Gedanken neu aufzurollen...
Andererseits: wenn man alles fortlaufend
drauflos, gleichsam gedankenlos, einfach so niederschreibt, dann fehlt die
Entwicklung, der Plan, die schwungvolle Form des Gedachten.
Der eigentliche
Inhalt meiner Übung besteht somit darin, gleichsam die ideale Verbindung von
Denkzeit und Niederschrift zu finden. Und damit hapert es vorläufig gewaltig.
Vom Schreiben mit widerspenstigen, ungelenken zehn Fingern ganz zu schweigen.
Aber warum muss ich ausgerechnet jetzt, wo ich entschlossen bin, Perth zu
verlassen, mit einer solchen "Übung" beginnen? Als suchte ich darin nach einer
neuen Bindung, die mich bleiben lässt!
Ich brauche eine Brücke zum Frühling. Bis zum Frühling tut sich nichts. Ich
werde üben und schreiben, bis der Frühling kommt. Ich werde abwarten und sehen,
was mir der Frühling bringt.
Und während ich abwarte, werde ich schreiben
und das Geschwätz meines Lebens mit dem Tippen meiner Schreibmaschine übertönen.
Vielleicht finde ich an der Langeweile Spass?
Es geht darum, in dieser Schrift und Welt zu überleben.
Donnerstag, 3. September.
Ich sitze mit Chapong im 'Coral'. Chapong hat das letzte Schachturnier
gewonnen, und so schulde ich ihm jetzt ein Nachtessen. Wir kommen meistens
hierher. Es ist das am nächsten gelegene chinesische Restaurant. Das Essen ist
gut und reichlich, und der Preis korrekt.
"Chapong, hast du je daran
gedacht, ein Buch zu schreiben?"
Chapong, mit dem zerzausten Kopf tief über
den Teller gebeugt, die letzten Überbleibsel darin aufkratzend.
"Bitte?"
Seine bläulich verwaschenen Augen sehen mich verwirrt an.
Chapong in seinem
immerselben zerknitterten Hemd und der immerselben verwaschenen Wolljacke, die
ihm lose von den Schultern hängt. Chapong in seiner ganzen Liederlichkeit.
"Chapong, wo haben sich deine Gedanken denn wieder verirrt?"
Ständig
abwesend, unentwegt deprimiert und skeptisch - und doch so leichtgläubig, dass
er einem jeden Blödsinn glaubt.
"Oh, Entschuldigung!" Höflich ist er, der
Chapong.
Aber nie beginnt er ein Gespräch, und immer dauert es eine ganze
Weile, bis er von einem Notiz nimmt. Er kommt zu mir, wenn er sich in seinem
College-Zimmer langweilt. Dann spielen wir Schach und trinken Kaffee - und
kommen wir doch einmal ins Gespräch, findet es bald keine Fortsetzung.
Den
einzigen Spass mit ihm hat man, wenn man ihn provoziert: mit einer faulen
Bemerkung etwa, die ins Weiche trifft. Dann reagiert er heftig und verteidigt
sich eine Zeitlang.
"Woran dachtest du eben, Chapong?"
"Ich dachte, wie
schön es wäre, in der Lotterie zu gewinnen. Eine Million, oder so. Wäre gut,
nicht?"
"Bestimmt!"
Das war sie also, seine private Welt.
Er
schmunzelt kurz, wie verlegen - und schon will er sich wieder in seine Welt des
Still-vor-sich-hin-Brütens zurückziehen.
"Ich fragte dich," insistiere ich,
"ob du je daran gedacht hast, ein Buch zu schreiben."
"Nein!"
Kurz,
unmissverständlich: Nein! Eine mathematische Antwort. Chapong liebt
mathematische Antworten. Deshalb gewann er das letzte Turnier.
Ein junges
chinesisches Paar tritt ein und schaut sich im Restaurant um. Alle Tische sind
besetzt. Wie die junge Dame dort an der Tür steht und suchend ihrem Gatten über
die Schulter guckt, sieht sie recht attraktiv aus. Das Pärchen beginnt zwischen
den Tischen herumzuwandern.
Weshalb 'Nein'? Ich wüsste bessere Antworten. Er
schien nicht einmal überrascht zu sein? Hat er sich die Frage etwa selber schon
gestellt? Oder findet er den Gedanken schlechterdings absurd?
"Warum
eigentlich nicht, Chapong? Wäre doch eine ganz gute Idee, dein Wissen in einem
Buch zusammenzufassen - damit andere davon profitieren können. Findest du
nicht?"
"Nein."
"Warum willst du deinen Mitmenschen nicht helfen?"
"Wie meinst du das?"
"Ich meine: du hast gewisse Schwierigkeiten, dich
im Leben zurechtzufinden. Sicher hast du dir viele Gedanken gemacht - über dich,
das Leben, ganz allgemein - und bist zu bestimmten Schlussfolgerungen gekommen.
Wie wär's, wenn du all dieses Wissen in einem Buch zusammenfasstest, damit auch
andere Menschen davon profitieren?"
"Vielleicht."
"Du hältst nicht viel
davon?"
"Nein."
Das chinesische Paar sucht noch immer nach einem Tisch.
Jetzt stehen sie direkt hinter mir. Es ist erst kurz nach sieben - zu früh, um
ins Kino zu gehen.
Ich drehe mich um und bitte die jungen Leute, an unserem
Tisch Platz zu nehmen: wir würden ohnehin bald aufbrechen.
Chapong rutscht
nervös auf seinem Stuhl herum. Er liebt fremde Gesellschaft nicht. Auch unsere
jungen Gäste halten nicht viel von Geselligkeit: sie setzen sich neben uns an
den Tisch und drehen ihre Stühle leicht ab, und nun sitzen sie sich schräg und
schweigend gegenüber und warten auf die Bedienung. Es bleibt uns immer noch ein
halber Krug heissen Chinesentees zum Trinken.
"Du willst also dieses Buch
nicht schreiben?" beginne ich erneut, nur um etwas zu sagen.
"Nein. Ich kann
ohnehin nicht schreiben."
"Meinst du denn nicht, dass sich die Menschen
gegenseitig helfen sollten?"
Chapong schmunzelt. "Siehst du," meint er mit
wichtiger Miene und lehnt sich vor, "ich mag vielleicht manchmal wie ein Sozi
sprechen - aber in Wirklichkeit bin ich ein altmodischer Kapitalist!"
Die junge Chinesin wirft ihm einen flüchtigen Blick zu. Chapong lehnt sich
wieder zurück und schaut mich auf seine schüchterne Art herausfordernd an.
Offensichtlich erinnert er sich nicht, dass er mir diese Selbstdefinition
bereits vor ein paar Wochen aufgetischt hat.
An einem anderen Tisch erkenne
ich Sarah. Ich fühle mich immer beschämt, wenn ich sie sehe.
Chapong schenkt
sich eine Tasse Tee ein.
"Okay," sage ich, "das mag ja stimmen. Aber
auch als Kapitalist bist du von anderen Menschen abhängig. So ist es bekanntlich
von Vorteil, wenn man einem Kapitalisten entgegenkommt - denn handkehrum kann
auch er dir wieder behilflich sein."
"Das ist alles vorgeplant. Wenn ich
mein Studium abgeschlossen habe und in Bangkok unterrichte, stehe ich voll und
ganz meinen Studenten zur Verfügung. Dann können sie mit all ihren Problemen zu
mir kommen, und ich werde ihnen helfen, wo immer ich kann."
"Na schön! Nur
könntest du dich bereits jetzt nützlich erweisen. So hättest du zum Beispiel
statt nur dir Tee einzuschenken auch gleich meine Tasse auffüllen können." Ich
greife nach dem Teekrug. "Siehst du?"
Chapong grinst. Er ist ein störrischer
Schüler.
Im Lokal wird es heiss. Der schwere Geruch nach stark gewürztem
Essen wirkt einschläfernd, und ich begehre nach frischer Luft.
Wir trinken
den Tee aus. Ich zahle. Beim Hinausgehen wechsle ich ein paar belanglose Worte
mit Sarah. Sie ist in Begleitung einer asiatischen Freundin.
Draussen weht
ein kalter Wind. Wir sind eine gute halbe Stunde zu früh für das Kino.
"Wenn
du das Buch nicht schreibst - darf ich es dann für dich schreiben?"
Chapong
scheint den Wind nicht zu spüren. Schlottrig stapft er neben mir einher, den
Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen. Seine verwaschene Wolljacke flattert
formlos hinter ihm her, so als könnte sie sich jeden Moment in nichts auflösen
und mit dem Wind davonfliegen.
"Wenn du meinst."
Er hatte speziell für
mich sein eigenes Programm umgestellt, um mit mir ins Kino zu gehen, denn
ursprünglich wollte er mit seinem siamesischen Freund in die Uni-Bibliothek. Das
war ja ganz nett, fand ich, nur könnte er allmählich auch etwas zur Unterhaltung
beitragen.
"Ich benötige lediglich etwas Hintergrundmaterial, damit ich dir
besser gerecht werde. Den Rest kannst du ruhig mir überlassen. Einverstanden?"
"Gib mir ein paar Tage Bedenkzeit."
"Sicher. Lass dir ruhig Zeit. Ich
werde dich in ein paar Tagen wieder fragen, einverstanden?"
"Weshalb willst
du denn überhaupt ein Buch über mich schreiben?"
"Oh, ich finde, du bist ein
interessanter Typ. Du hast einen speziellen Charakter - und dann kenne ich dich
ja schon lange..."
Chapong sieht amüsiert hoch. "Du glaubst, mich zu
kennen?"
"Ja, doch. Ziemlich."
"Was weisst du denn über mich?" Jetzt
gibt er sich überlegen. Aber in seine Überlegenheit mischt sich, ich merke es,
ein Hauch Misstrauen.
"Nun, ich weiss zum Beispiel, dass du ein Träumer
bist, und dass du dich oft niedergeschlagen fühlst und dich keinen Deut darum
kümmerst, was um dich herum geschieht - dass du ständig über dich selbst
grübelst und äusserst misstrauisch bist - und so weiter. Trifft das alles nicht
zu?"
"Vielleicht." Er studiert wieder seine Fussspitzen, während wir
weitergehen.
"Und dann weiss ich noch etwas: dass du in allem furchtbar vage
bist. Immer 'vielleicht', 'kann sein', 'möglicherweise'! Versuch doch mal etwas
bestimmter zu sein! Sag doch mal 'Ja!' oder 'Nein!' (Da tat ich ihm Unrecht
vorhin, als ich mich noch über sein 'Nein!' ärgerte.) Dann weiss man zumindest,
woran man ist. - Siehst du, Chappy, das ist der Unterschied zwischen dir und
mir. Du bist unklar und vage, und ich bin bestimmt und - zack-zack! verstehst
du? Sogar wenn ich meiner nicht sicher bin, oder wenn ich Sorgen habe - wichtig
ist, dass man nach aussen hin zuversichtlich und fröhlich erscheint."
"Für
dich ist es leicht, das zu sagen."
"Wieso?"
"Du hast keine Sorgen."
"Woher willst du das wissen? Natürlich habe ich Sorgen. Zum Beispiel bin ich
knapp bei Kasse, nachdem ich..."
"Aber du weisst wenigstens, dass du bald
wieder zu Geld kommst. Du brauchst bloss nach Hause zu schreiben."
"Zugegeben."
"Siehst du, deine Sorgen sind nur temporärer Natur."
Chapong triumphiert. Ich kann stolz auf mich sein.
"Ich glaube, jetzt hast
du mich erwischt."
"Siehst du, ich hatte recht!"
"Vielleicht, ja.
Andererseits..."
"Wer sagt denn jetzt 'Vielleicht'? Ich finde, du bist
ziemlich inkonsequent in deinen Argumenten!"
Ich hasse Mathematiker. Sie
verstehen nichts von Logik.
"Okay, Chappy, du hast recht: meine Sorgen mögen
wohl temporärer Natur sein -
aber deine sind es nicht minder. Worauf es
ankommt, ist das Ausmass an Bedeutung, die man ihnen zumisst. Ich verleugne zum
Beispiel schlechtweg, irgendwelche Sorgen zu haben. Ich habe soeben gut
gegessen, spaziere nun gemütlich durch die abendlichen Strassen von Perth, freue
mich auf den Film, den wir uns gleich ansehen werden, geniesse den kühlen Wind,
der uns um die Ohren weht - und natürlich deine Gesellschaft - : ich verstehe
wirklich nicht, weshalb du das nicht auch kannst. Freust du dich denn nicht, mit
mir ins Kino zu gehen?"
"Ich weiss nicht."
"Was heisst da 'Ich weiss
nicht'? Dann sind wir aber quitt, Freundchen, hein?! Freust du dich oder freust
du dich nicht?"
"Okay."
"Okay was? Ja oder nein?"
"Okay, ja!"
Das kostete ihn eine schiere Anstrengung. Er sackt förmlich in sich zusammen
und verlangsamt seinen Schritt.
"Du bist schrecklich, Chapong! Na komm
schon, wir haben noch einen weiten Weg. Ich werde über dich schreiben. So, wie
wir uns jetzt miteinander unterhalten. So, wie du mit mir ins Kino kommst. Wie
du lebst und wie ich dich kenne, mit all deinen Grübeleien und Brütereien. Du
wirst dich aus einer ganz neuen Perspektive sehen. Du wirst dich so sehen, wie
ich dich sehe, als fremde Person, die selbständig auf jeder Buchseite lebt und
sich mit jeder Handlung, mit jedem Wort neu vorstellt. Würde dich das reizen?"
Chapong reagiert nicht. Und ich gebe ihm auch keine Gelegenheit dazu.
"Siehst du, Chapong, das ist genau der Unterschied, von dem ich vorhin
sprach: ich bin aktiv, und du bist passiv. Du liegst auf dem Bett herum und
brütest, und ich gehe ins Weinhaus und schwatze mit der Barmaid. Du lässt dich
von den anderen herumschubsen und einschüchtern, und ich trete ihnen in den
Arsch."
"Das ist aber etwas grob, nicht?" Es bleibt unklar, ob er sich
lustig machen will oder nicht.
"Schon recht, Chapong, nimm mich nicht allzu
wörtlich. Aber siehst du, darum geht es doch letztendlich: aktiv zu sein,
Präsenz zu markieren. Du aber bist dermassen mit dir selbst beschäftigt, dass du
jeglichen Kontakt zur Aussenwelt verlierst. Du brütest und meditierst und
erfindest immer neue Sorgenquellen - dadurch erreichst du nichts. Denken ist
Passivität. Das Leben aber verlangt nach Aktivität: sei aktiv, Chapong!"
"So
wie du?" Wieder ist nicht ersichtlich, ob er mir eins auswischen will - oder ob
er tatsächlich auf meine Blödeleien eingeht.
"Jawohl, so wie ich. Nimm dir
ein Beispiel an mir - dann darfst du nämlich das nächste Mal mich zum Nachtessen
einladen. Weisst du, es ist nett, Gastgeber zu sein: das richtet einen enorm
auf. Nur im Kino, da musst du selber zahlen, da machen wir halbe-halbe. - Sag
mal, was trägst du da eigentlich mit dir rum? Sind das noch immer deine
Vorlesungsnotizen?"
Chapong trägt tatsächlich seine Schreibmappe unter dem
Arm - ich bemerke es erst jetzt.
"Die hättest du ruhig in meinem Zimmer
lassen können. Was ist es denn?"
"Statistik."
"Hältst du Schritt?"
"Nicht ganz. Ich bin leicht im Rückstand. Aber das hole ich problemlos auf."
"Mach dir nichts draus. Morgen ist auch ein Tag. Geniesse den Abend. Eine
Verschnaufpause tut immer gut."
Mich fröstelt. Die Strassen sind zu
dunkel hier unter dem schwarzen, verhangenen Nachthimmel. Oder das Kino ist zu
weit weg.
Jedenfalls ist es zu kalt.
Freitag, 4. September 23h30
Ist dies also mein Schicksal? Du meine Güte, womit nur habe ich so was
verdient?
Jetzt, da alles fast geregelt war, da ich meinen Abschied
vorbereiten, mich auf meine Heimreise, die Reise durch Südostasien hätte freuen
können, genau jetzt muss ich damit beginnen!?
Kann ich denn das? Was braucht
es überhaupt?
Eine Schreibmaschine natürlich, und viel Port. Geduld und
Musse - Zeit, jede Menge.
Mit diesen Mitteln soll ich in den Kampf? In den
miesen Kampf ums Leben und ums Sterben?
Welch betrübliche, kümmerliche
Aussicht!
Ich bin verwirrt. Da warte ich, warte ich - und jetzt das!
Wenn man so lange wartet und es geschieht nichts, fühlt man sich leicht
hintergangen. In diesem Sinn fühle ich mich hintergangen: betrogen und
enttäuscht.
Und dann ist es richtig, wenn man eine Reise plant: einen Plan,
zu verreisen. Ich habe Freunde, die mir dabei helfen. Wie Ismael, der heute
Nachmittag vorbeikam. Er erzählte mir von Indonesien und von Java, von Vulkanen,
Tempeln und Batik, von Bali, seinen Göttern, von wundersamen Pilzen. Er selbst
kommt aus Medan; er zeigte es mir auf meiner Asienkarte. Der Landweg vom Süden
sei sehr beschwerlich, meinte er, deshalb sei die Flug- oder Schiffsreise aus
dem Norden vorzuziehen. Allein des zauberhaften Tobasees wegen lohne sich
jedenfalls der Besuch.
Ich gab zu, dass mich dieser Ausflug sehr verlockte,
gab aber zu bedenken, dass mein Reiseplan noch nicht sehr konkret, eher generell
sei. Vielleicht, sagte ich, reise ich nämlich direkt heim.
Oder bleibe
überhaupt hier.
Denn ausgerechnet jetzt, zu einem so ungünstigen Zeitpunkt
befallen mich Zweifel - suche ich Ausflüchte, um mich einer
'Schreibübung' zuzuwenden, von deren Nützlichkeit ich erst selbst noch
überzeugt werden muss.
Wo führt das alles hin?
Offenbar nicht in den
Dschungel Sumatras. Sondern eher in den Dschungel absonderlicher Gedankengänge,
abstruser Gehirnfluktuationen, die sich ihre Tastenkombination auf meiner
Schreibmaschine erst noch suchen müssen.
Ist das der Weg? Bin ich dazu
geboren? Welchem Stern habe ich das zu verdanken?
Das liege an der
Veranlagung, meinte Martin damals, am künstlerischen Naturell. Davon verspüre er
selbst zwar wenig, obschon seine Sternstunde im Wassermann liegt - allerdings
knapp an der Grenze zum Fisch - und sowieso glaube er nicht an die Sterne - :
jedenfalls hoffe er zuversichtlich, dieses Buch gelegentlich zu schreiben.
Was gibt es da für mich zu hoffen? Gibt es den Fisch? Gibt es das Wasser?
Oder nur das Theater?
Bin ich glücklich?
Ich werd verrückt!
Was
bleibt, ist die Nacht. Und die Mahre. Wer Nachtmahre hat, schreibt von selbst.
Das Klappern der Schreibmaschine hält die Gespenster fern. Zumindest die Nacht
lasse ich mir nicht stehlen.
Ich liebe die Nacht. Je trostloser die Nacht,
desto mehr liebe ich sie. Ich liebe diese vagen, vernebelten, vieldeutigen
Nächte, wo nichts zu unterscheiden ist: dort spielt das gerissenste Leben.
Hier spielen Komödianten, hier spiele ich meine lustigen Spiele, die niemand
durchschaut - weder ich noch meine engsten Bekannten.
Und genau hier beginnt
das Problem: Was wird hier eigentlich gespielt?
Die Frage liesse sich auf
eine Formel reduzieren. Oder man könnte eine Münze werfen - es sei denn, man ist
pleite.
Nur: die Antwort auf die Frage ist unabhängig von der Lösung des
Problems. Mathematik ist so, das hat Chapong bewiesen. In der Mathematik gibt es
dieses berühmte Häkchen, an dem die ausgeklügeltste Berechnung hängenbleibt.
Wie hier zum Beispiel: hier liegt das Häkchen im Moment der Tragik, indem
sich das banalste Lustspiel vor dem sorglosen Publikum zur Farce, zur Tragödie
wandelt, welche nichts mehr gemein hat mit dem ursprünglichen Problem.
Und
dann spiele ich, spielst du, spielt er das falscheste Theater seit Sophokles.
Ein richtiges Lügentheater. Die blosse Existenz beruht auf Lug und Betrug - und
die Rollen wechseln beständig.
Und immer enger zieht sich das Netz zusammen,
bis niemand mehr weiss, wer er ist und was er tut - und erst ganz zuletzt
bemerkt man den Trug - oder merkt überhaupt nichts, ist einfach gefangen im
Netz.
Und dann?
Dann beginnt die Spinne dich zu saugen.
Welche
Spinne?
Ich weiss es nicht.
Mein Leben ist eine Lüge. Niemand weiss, was
ist Spass, was Ernst.
Was ist Wahrheit?
Wahrheit ist das Krümmen des
Häkchens. Und mit dem Krümmen des Häkchens beginnt das Problem.
Das hat
schon mancher Fisch gespürt.
Und so geht es dann weiter!
Krümmen wir
los, hacken wir weiter auf der Tastatur!
Gute Nacht, ihr Geister!
Ich
muss hinweg!
Weg, weg, weg!
Ich muss dieses Buch schreiben!
Samstag, 5. September
Gerettet, Nwafo kommt!
Nwafo ist ein netter Bursche. Er kommt aus Nigeria
und will dort einmal an der Universität unterrichten, sobald er sein Studium
hier abgeschlossen hat.
Gut. Wir gehen auf eine kleine Spritztour. Lausiges
Auto - aber es fährt, meistens. Den Trick mit dem Autofahren hat Nwafo in
Australien gelernt.
Ich schlage vor, Fanny und Ahmed zu besuchen.
Fanny
war in meiner Klasse, als ich noch studierte. Sie besuchte mich oft in meiner
Wohnung, obschon sie um Sarah wusste. Dann lernte sie Ahmed kennen und zog mit
ihm in eine eigene Wohnung, und mir war es recht, auf diese Weise etwas Distanz
zu gewinnen.
Beide sind sie eifrig am Studieren; aber wir sind trotzdem
willkommen. Fanny offeriert Kaffee. Ich folge ihr in die Küche, während Nwafo
sich mit Ahmed über Politik unterhält.
Sie habe viel zu tun, meint sie, mit
Essays, Lesen, Schriften. Momentan arbeite sie an einer Studie über Dickens -
den wortreichen Hintergassen-Romantiker.
Sie reiht Kaffeekrüge nebeneinander
und löffelt Kaffeepulver hinein, während wir auf das Wasser warten.
"Wieviel
Zucker nimmst du?"
"Zwei."
"Milch?"
"Ja. Dasselbe für Nwafo, glaube
ich."
Ich schaue ihr zu und frage mich, was sie so attraktiv macht? Ihr Mund
ist es nicht: er ist zu gross (sie schwatzt aber auch unaufhörlich; nicht dass
sie klatscht, aber immerhin sind es doch unglaubliche Banalitäten, die mich
jedesmal total aus der Fassung bringen). Ihr Busen ist es auch nicht:
übergrosses Gerät. Nicht einmal eine gute Liebhaberin ist sie gewesen.
Sie
besitzt eine fleckenlose weisse, sanfte Haut und schwarze, glänzende Augen, die
unter ihren breit geschwungenen Brauen wie samtene Funken glühen. Ihr langes
schwarzes Haar fliesst ihr in feinen Strähnen auf die Schultern. Jetzt, da sie
leicht nach vorn geneigt das Wasser in die Krüge schenkt, sieht sie in der Tat
wie eine jungfräuliche, unantastbare Heilige aus.
Sie schaut unvermittelt
auf, blickt mir direkt in die Augen. "Und du," fragt sie, "was machst du jetzt
die ganze Zeit?"
"Ich? Oh, nichts Besonderes. Ich gehe oft ins Weinhaus,
empfange Freunde, oder gehe auf Besuch, oder ins Kino - oder gehe sonst aus..."
Sie braucht mich nicht mehr. Ich bin überflüssig hier. Die Einsicht
schmerzt.
Vom Küchenfenster aus überblickt man die roten Ziegeldächer der
Universitätsgebäude. Es ist ein guter Campus. Wie in einer Welt für sich ordnen
sich die Fakultäten gefällig in eine Gesamtanlage ein, verbunden durch weite
Parks und Sportfelder: das Verwaltungsgebäude, die Winthrop Hall mit dem
Konzertsaal, die Studentengilde mit ihren Klubzimmern, das Refektorium, die
Cafés, die grosse Bibliothek mit ihren Lesehallen, ihren Studiertischchen,
ihrer grossen offenen Terrasse - ein guter Campus. Ein gemütlicher Campus. Ein
ruhiger, geordneter, sinnreicher Campus.
Verdammt sei der Campus!
"Wann
verlässt du Australien?"
Sie sollte nicht fragen. Ich will nicht fort. Es
gefällt mir in Perth, hier, unter meinen Freunden. Hier finde ich Ruhe und
Vergessenheit. Hier habe ich mich versöhnt.
Ich schlage vor, für ein Bier in die Pub am See hinunterzugehen.
Ahmed
und Fanny lehnen ab. Sie hätten keine Zeit, sie müssten noch studieren. Ahmed
witzelt, wir sollen in der Pub ein Glas für ihn mit trinken, und Fanny schlägt
dasselbe für sich vor. Ich witzle zurück: okay, dann gebt uns das Geld für eure
Getränke.
Schliesslich brechen Nwafo und ich allein auf.
"Sag mal, bist
du eigentlich verliebt in Fanny?" fragt Nwafo, während wir zum See
hinunterfahren.
"Eigentlich nicht, weshalb? Weil ich sie so oft besuche?"
"Ja; jedesmal, wenn wir rausfahren, willst du sie besuchen."
"Ich mag
sie, das ist alles. Es ist auch nicht so, dass ich Ahmed beneide. Ich möchte
nicht mit ihr zusammenleben."
"Was das betrifft, möchte ich überhaupt mit
keiner Frau zusammenleben," meint Nwafo hochmütig.
"Oh, es gibt schon
welche," entgegne ich, ohne an eine bestimmte zu denken.
Ich liebe es, mit
Nwafo auszufahren. Ich liebe seine frische, ehrliche, kraushaarige
Natürlichkeit.
Liebe ich Fanny? Ich weiss es nicht. Ich liebe sie, wenn sie
nicht schwatzt. Ich liebe sie, wenn sie mit mir auf dem Bett liegt, wenn sich
ihr warmer Körper an mich schmiegt. Ich liebe sie, wenn ich mit der Hand über
ihre feine, sanfte, weisse Haut fahre, wenn ich ihre dunklen, samtenen Augen
küsse, ihr duftendes Haar rieche. Aber dann beginnt sie zu schwatzen, und ich
liebe sie nicht mehr, und wenn sie geht, fühle ich mich leer und betrogen.
Wir haben die Pub erreicht. Wir sind die einzigen Gäste.
Ich bestelle
zwei grosse Helle. Das Bier ist eiskalt. In Australien trinkt man es so: eiskalt
und bis an den Rand gefüllt - ohne Schaum.
"Wie geht's an der Uni?"
"Im
Moment ist es ziemlich herbe. Schlage mich so durch. Aber bis zu den Prüfungen
dauert's ja noch!" Wie um die Sache nochmals genau zu durchdenken, legt Nwafo
seine hohe, pechschwarze Stirn in ein ganzes Netz von winzigen Runzeln, die nun
irgendwie saukomisch mit seinem Kraushaar kontrastieren.
Sein Kraushaar hat
mir seit jeher imponiert. Welche Gedanken sich hier verfangen mögen?! Ob sich
hier wohl auch sein Bier verfängt, wenn er zuviel trinkt? Dann wird der Bursche
eh ungemütlich!
Mit dem Rücken an die Theke gelehnt, schauen wir hinaus auf
die Gartenterrasse. Im Sommer ist es angenehm nach den Vorlesungen mit ein paar
Kollegen hierherzukommen und draussen auf der Terrasse unter einem Sonnenschirm
eiskaltes Bier zu trinken. Auf dem See treiben dann die Segelboote geruhsam und
ziellos im lauen Wind umher, und unten am Ufer spielen Schulkinder Fussball -
und abends, wenn sich der Wind gelegt hat, sitzt man noch immer draussen auf der
Terrasse unter den bunten Glühbirnen und schaut zum See hinaus und hinüber zu
den Lichtern der Stadt auf dem gegenüberliegenden Seeufer und lauscht dazu auf
die Musik drinnen in der Pub -
Ich werde nicht hier sein im Sommer. Und
jetzt ist es zu kühl, um draussen zu sitzen. Die blechernen Stühle und Tische
stehen verwahrlost auf der Terrasse herum. Der See ist eine öde, graue Fläche.
Kein einziges Boot zeigt sich. Auf dem Spielfeld nebenan jagen sich zwei Hunde.
Ein Mann schlendert quer über das Feld. Die Szene erinnert an einen morbiden
Film.
"Was behandelt ihr gerade in Englisch?"
"Robert Browning."
"Gut?"
Nwafo liebt Browning. Browning sei der beste englische Dichter,
findet er.
Der Krauskopf hat keine Ahnung. Dichtung ist Ausdruck von
Empfindung, Sinnlichkeit, Innerlichkeit. Was sich hingegen der alte Verseschmied
da so zusammenreimte, ist nichts als pseudo-intellektuelle Spitzfindigkeit,
Äusserlichkeit, Schaustellerei. Ich hasse diesen gerissenen Effekthascher! Ich
hasse ihn, ich hasse ihn, ich - ach! was zum Teufel geht mich dieser Browning
an! Ein paar seiner Sprüche sind ja ganz amüsant.
Aber über irgend etwas
muss man sich ja schliesslich unterhalten.
Wir setzen uns an einen Tisch und
unterhalten uns über Browning. Ein gutes Thema.
Ich bringe Hemingway ins
Gespräch. Nwafo mag Hemingway nicht. Gut so, ich auch nicht. Ich verteidige ihn
nur aus Solidaritätsgründen: seiner traurigen Innerlichkeit, seiner alten,
verhassten, schmuddligen Innerlichkeit wegen.
Hemingway hätte Gedichte
schreiben sollen.
Ich bestelle weiteres Bier. Nwafo wird mich nach Hause
fahren.
Sonntag, 6. September
Dieser Hurensohn verdirbt mir noch den ganzen Sonntag! Was erlaubt er sich
eigentlich? Sein Fell werde ich ihm vom Leib reissen, ihm die Faust in den
verlogenen Rachen stossen, dem Hund, dem elenden!
'Was hat der mir schon zu
bieten?!' - ha!
Und was hat er zu bieten? Was hat er schon zu bieten ausser
seinem schimmligen Pferdegebiss, das ich ihm in tausend Stücke zerschmettern
werde?
Und dazu betrunken! Wie kann er sich betrinken, wenn er doch kein
Geld hat? Und hat er Geld: warum zahlt er dann seine Schulden nicht ab? Wehe,
wenn ich ihn erwische!
Als mir Ismael gestern Abend die Story erzählte,
fühlte ich, wie mir das Blut glutheiss in den Kopf stieg. Es ist aber auch eine
Unverfrorenheit ohnegleichen, sich erst bei mir einzunisten, ständig Geld zu
pumpen und anschliessend abzuhauen und zu erklären, ich hätte ihm sowieso nichts
zu bieten!
Lump, verruchter!
So wütend war ich, dass ich mich kaum aufs
Schachspiel konzentrieren konnte. Natürlich verlor ich problemlos.
Ich werde
ihn mir vorknöpfen! Verprügeln werde ich ihn wie einen tollwütigen
Strassenköter! Ich will ihn winseln hören und um Gnade flehen, bevor ich ihm das
Maul endgültig stopfe!
Dieser Sonntag jedenfalls ist im Eimer. Australische
Sonntage sind immer irgendwie im Eimer. Sogar die Pubs sind zu.
Dieser
verlauste Haschbruder! Dieser Hochstapler!
Was hat er selbst zu bieten
ausser seinen geklauten Heustengeln, die ich ihm in den Hintern stecken werde?!
Ein Schwindler ist er, ein hundsgemeiner Schwindler der übelsten Art!
Mit
seinem frechen Grinsen stiehlt er dem Herrgott den lieben Tag ab und mogelt sich
als Geck durchs Leben, dabei schert er sich einen Dreck um die Leute ringsum,
sondern leckt ihnen noch das Salz von den Füssen, wenn es ihm dient. Bei mir hat
er ganze Salzberge geleckt und liess sich dafür noch bezahlen, bis ich ihn
schliesslich aus der Wohnung warf.
Und Ismael verteidigte ihn noch, logisch:
weil er betrunken war! Und Trixy erachtete es für nützlich, mich zum Abschied
noch zu hänseln und "Aber wir mögen dich immer noch!" hinterherzuquaken. "Und
vielen Dank noch für den Kaffee, und die Orangen, und die Musik, und die Lektüre
- und auf Wiedersehen!"
Okay, verstanden, man beliebt mich zu verhöhnen,
Grund genug gibt's offenbar!
Ich habe verspielt. Hassan hat recht: ich habe
echt nichts zu bieten. Deshalb bin ich so wütend auf ihn.
Ich hasse den
Kerl! Überall jagt er dem Vergnügen nach und findet es allenthalben. Und was
mich am meisten nervt: das ist seine unersättliche Gier! Da rast er dahin und
reisst einen mit und findet nie Zeit stillzustehen - ich hielt mit diesem
mörderischen Tempo einfach nicht mit!
Ich habe verloren, ich weiss. Zuletzt
schaffte ich es noch nicht mal, Lust auf das Vergnügen selbst zu haben.
Was
ich an Hassan beneide, ist, dass er nie genug kriegt!
Mögen ihn die Ratten
fressen!
Das hat man also davon. Da zieht man die Natter auf, macht sie mit
Dirnen und Haschkrämern und anderem Gesindel bekannt und zahlt erst noch für den
Unterhalt - und zum Dank wird man beleidigt und verhöhnt!
Lasse ich mir
sowas gefallen? Bin ich denn ein Feigling? Das wäre ja noch schöner!
Ich
lasse mich von dieser schwarzen Schlange doch nicht herumschieben!
Magst du
dich ins Zentrum winden, verdrängen lasse ich mich nicht von dir, Hassan, und
wenn du des Teufels wärst!
Ich brauche nur irgendeinen Vorwand. Ich brauche
immer einen handfesten Grund, etwas zu tun.
Ich meine: bin ich denn brutal? Bin ich von Natur aus destruktiv?
Oder
anerkenne ich Werte, für die sich ein Opfer lohnt?
Oder bin ich tatsächlich
ein Feigling, einer, der sich vor seiner Verantwortung drückt?
Werte sind da
für Schwächlinge! Anstand und Liebe, Kunst, Religion - weg mit ihnen! Das ist
was für Leute ohne Mut, etwas für farblose Mitläufer!
Hassan ist keiner von
ihnen. Der biegt sich seine Werte so lange zurecht, bis sie ihm am besten
dienen.
Oh, der Fuchs! Dieser schlaue, gerissene Fuchs!
Oh, Sonntag,
lieber Sonntag! Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren! Zu essen gibt es
auch nichts, bis Martin kommt! Zum Glück führe ich etwas zum Trinken. Mit zwei
Dry Martinis habe ich mich schon bedient.
Oh, welche Lust ich doch verspüre,
sein grosses Lästermaul zu stopfen! Ihm ein Knie in den Bauch zu rammen, einen
rechten Haken aufs Kinn, dann eine volle Linke auf die Nase - sein Rückgrat
möchte ich zerbrechen! Zuletzt drehe ich ihm noch den Hals um, bis er sich von
hinten sieht und die Welt aus einer ganz neuen Sicht erkennt!
Natürlich trifft es zu: das Alte langweilt mich, und so strebe ich unentwegt
nach Neuem - und das ist auch bald bekannt. Von daher trifft es zu, dass ich
nichts bieten kann.
Drehen wir den Spiess doch einmal um. Was hat die Welt
mir zu bieten? Sie, mit ihrem stellaren Gefunkel und ihren planetarischen Bahnen
- was liegt da für mich drin? Da kommt man sich doch nur komisch vor, als
Statist, als eine Marionette - und insgesamt doch eher fehl am Platz!?
Es
ist zum Verrücktwerden!
Der ganze Zauber dreht sich doch nur im Kreis, und
zuletzt findet man sich am Anfang wieder - ohne einen Schritt vorwärtsgekommen
zu sein. Da kann man doch gleich zuhause bleiben und Türen und Fenster
verriegeln und die Glotzkiste einschalten, sofern man eine hat, und auf der
Flimmerscheibe verfolgen, was sich draussen tut.
Ich passe da einfach nicht
rein, ich passe nicht in dieses System, in diesen geordneten Lauf. Es muss etwas
geben, das mich trennt, das mich an den Rand drängt.
Aber ich zahle für
meine Position! Bis jetzt habe ich bezahlt - und ich bestehe auf Rückzahlung,
wenn ich abtreten soll!
Einstweilen muss ich kurz austreten. Wie viele Martinis waren das? Drei oder
vier?
Ich liebe Dry Martinis. Davon kann man beliebig viele trinken und wird
doch nicht richtig voll davon - nur leicht beschwipst. Und im Laufe der Zeit
überfällt einen eine angenehme Müdigkeit, eine bequeme Gleichgültigkeit - und
dann ist die Welt wieder in Ordnung.
Gott hatte da Heimvorteil: der bog sich seine Werte zurecht und wusste, wo
die Häkchen lagen. Am Ende stand seine Welt, und das Programm lief ab - und
dies, wie es schien, zu seinem masslosen Vergnügen.
Ich muss mir auch ein
Programm erstellen. Ich muss mir auch eine Welt kreieren - mit Bergen und Seen,
mit Häkchen und durstigen Kehlen - mit Schmarotzern, lumpigen Dieben - halt mit
allem, was so dazugehört.
Oh, rauscht, ihr Wässerchen, rauscht! Mein Lebenssaft entrinnt - in die
Kloake - hinweg!
Oh, tut das gut! Es gibt nichts Besseres, als sich den
Ärger durchs System zu spülen. Zuletzt bleibt die Erleichterung - und ein Zucken
in den Schultern: was soll's?
Tropf aus, erbärmlich Wässerlein, tropf aus!
Oh, welche Wohltat!
Es hat was Gutes, sich den Ärger von der Seele zu
schreiben. Zum einen hat man den Beleg, zum anderen fragt man sich: hab ich was
vergessen - oder war's das schon?
Und zuletzt: allein die leere Hülle
bleibt!
Mein schmarotzender Barmann hat sich zurückgemeldet. Jetzt ist meine ganze
Kreativität gefordert!
"Hallo dort, du mein schlitzäugiger Bruder,
willkommen!" begrüsse ich ihn. "Wie viele Boxkämpfe hast du denn heute
geschlichtet?"
"Keine. Die Bar vorn war sowieso geschlossen - und im
Restaurant passiert sowas kaum."
"Keine Boxkämpfe? Keine Gewalttätigkeiten?
Nicht ein Zipfelchen Brutalität?"
"Gütiger Himmel, was ist denn heute wieder
los mit dir?"
"Nichts ist los, du fettwanstiges Wohlstandsprodukt
orientalischer Prägung! In einem leeren Magen ist nie was los!"
"Hast du den
Curry aufgegessen?"
"Curry, oh Meister der Kochlöffelführung? Welchen Curry
geruhen Ihro Dienstwürden zu erwähnen?"
"Den Curry natürlich, den ich
gestern kochte. Wir haben noch nicht mal die Hälfte davon gegessen - und Reis
hatte es auch noch eine halbe Pfanne voll."
"Aber worauf wartest du dann
noch, mein lieber Martin? Auf, los, in die Küche: ich sterbe vor Hunger!"
"Ich glaube, du wärst sogar fähig, in einer Speisekammer zu verhungern!"
"Sehr wohl bemerkt. Aber siehst du: des Weisen Brot ist - seine Weisheit!"
"Verschone mich mit deinen Weisheiten!"
"Richtig: erlaben wir uns an
Irdischem."
"Ich hab Prawns mitgebracht - ich dachte, du hättest den Curry
schon aufgegessen."
"Das macht nichts, wozu haben wir schliesslich einen
Kühlschrank? Gib her! Kommt, oh ihr hartschaligen Heerscharen der Meere, ich
werde euch euren Warteplatz zur Erlösung zuweisen. Ihr habt sogar die Wahl, denn
der Kategorien sind zweierlei: sucht ihr, bei aller Bescheidenheit, den harten
Urgrund eisiger Heiligkeit - oder zieht ihr den wohligen Komfort in
schlummernder Kühle vor? Doch seid gewarnt: wie auch immer ihr euch entscheidet,
keine Macht der Welt wird euer Schicksal ändern!"
"Sag mal, spinnst du
eigentlich?"
"In einem gewissen Sinne ja, denn nur ein Spinner meisselt
Runzeln ins Gesicht der Welt."
"Was haben meine Prawns mit deinen Runzeln zu
tun?"
"Deine Prawns überlegen sich eben, ob sie lieber gekühlt oder
tiefgekühlt werden möchten."
"Lege sie ins Kühlfach, sonst muss ich sie
morgen nur wieder auftauen."
"Hört ihr, meine kleinen Meerfreunde? Der Koch
hat für euch entschieden! Und nun mögt ihr euch hier kühlen bis zur Stunde des
Gerichts, und wisset: wenn ihr erneut das Licht der Welt erblickt, wird sühnende
Vergeltung eurer harren! Im Fegefeuer werdet ihr landen, dem niemand entgeht!
Denn Sünder seid ihr alle. Amen!"
Montag, 7. September
Zehn Uhr morgens: so früh bin ich noch nie aufgestanden!
Morgenstund hat
Gold im Mund - zeigt her eure Füsse, zeigt her eure Schuh - heute wird geputzt!
Und dann gehe ich auf den Campus.
Zwölf Uhr. Wusch meine Wäsche in der Laundro-Bar; welche Plackerei! Dabei
herrscht richtiges Ferienwetter. Sogar die Sonne scheint; kühl, aber immerhin:
sonnig.
Schamponierte mein Haar unter der Dusche, bürstete meine Zähne,
machte das Bett - ich war richtig aktiv heute Morgen! Alles glänzt und glitzert,
und besässe ich einen Staubsauger würde ich eventuell sogar noch Staub saugen.
Item: jetzt bin ich hungrig. Ich werde im Uni-Ref essen gehen.
Ein
letzter Blick in den Spiegel, noch ein resoluter Strich durch die lockige Mähne,
den Pullover um den Hals - voilà, smart boy!
Und nun lasst die Welt uns
sehen!
Siebzehn Uhr: zurück von meinem Ausflug auf den Campus. Fühlte mich ein wenig
wie ein Tourist beim Besuch eines Pflichtstücks.
Der Frass im Ref: lausig
wie üblich, dafür billig. Lästig allein die jungen Studenten ringsum mit ihrer
zielbewussten Nervosität. Sie schlangen das Essen hinein, als fänden die
Prüfungen bereits morgen statt.
Item: sah meine indische Squaw. Sie sah
hinreissend aus wie immer - aber diesmal gaben meine Knie nicht mehr nach. Ich
darf ihr einfach nicht zu nahe treten: mein Götterbild soll nicht zu Bruch
gehen. Irgendwie erinnert sie mich an Anita - den der Teufel holen mag!
Item: die grosse Enttäuschung war Mrs. Goodwyn. Zuerst liess sie mich
geschlagene fünf Minuten warten, während sie in ihr Telefon hineinflötete - und
dann überhäufte sie mich mit einer ganzen Maskerade von zähnefletschendem
Bedauern, schiefwimprigem Verständnis, getünchtem Erstaunen und lackbenagelter
Beflissenheit, so, als müsste sie für einen Farbenkleckser modellplappern - möge
auch sie der Teufel holen! Möge sie in der Hölle dampfbaden und dort ihre
gottserbärmlichen Grimassen schneiden!
Trotzdem erstaunlich, wie fremd man
sich plötzlich fühlt, wenn man der Uni einmal entsagt hat. Fühlte mich wie ein
Eindringling auf verbotenem Boden. Nur das Reisebürofräulein, das mich schon
letzte Woche bediente, war wirklich nett und zuvorkommend. Mit einem
entzückenden Lächeln händigte sie mir weiteres Prospektmaterial aus für meine
erwogene Reise durch Südostasien.
Habe einen Kostenvoranschlag gemacht für meine Reise: sie kostet zuviel.
Allein der Transport verschlingt ein Vermögen - und für Unterkunft und
Verpflegung sowie weitere Spesen lege ich nochmals zuviel drauf. Hm!
Zuerst
mit dem Bus von Perth nach Darwin, hatte ich mir vorgestellt; dann per Schiff
ein Inselhüpfen durch Indonesien bis nach Singapur, dann mit dem Zug weiter nach
Bangkok, und von dort mit dem Flieger nach Zürich, falls es das gibt, und weiter
per Tram in die Gartenstrasse, falls es die auch noch gibt: eine Reise von rund
hundert Tagen.
Warum nicht? Man plant schliesslich nicht alle Tage eine
Reise. Zudem: wenn ich bis zum Sommer warte, kehren viele meiner asiatischen
Freunde ferienhalber nach Hause zurück und können mir so aus erster Hand die
lokalen Sehenswürdigkeiten zeigen - so wie Ismael in Medan - falls er überhaupt
heimfährt -
Für Singapur müsste ich mein Haar schneiden lassen. Verdammte
Restriktionen! Ob sich das lohnt?
Ich könnte Singapur auch einfach
überspringen. Oder direkt von hier heimfliegen; das käme erst noch billiger.
Oder ich bleibe in Perth; das kostet am wenigsten.
Ich muss dieses Buch
schreiben, koste es, was es wolle! Bevor ich dieses Buch nicht geschrieben habe,
tut sich gar nichts - das weiss ich, so wahr ich jetzt nichts tue!
Ich tue,
du tust - gütiger Himmel, zumindest heute habe ich etwas getan! Und heute
jedenfalls gehe ich nicht ins Weinhaus! Heute bleibe ich zuhause!
Dienstag, 8. September
Gehe Ismael im College besuchen. Unterwegs läuft mir Chapong über den Weg. Er
habe gestern die ganze Nacht hindurch studiert, erzählt er, bis sechs Uhr früh.
Der Kerl spinnt.
Wir treffen Ismael auf seinem Zimmer. Er kocht uns Tee und
erzählt uns seine neuesten Witze. Zum Beispiel: Wer abends mit einem Sexproblem
ins Bett geht, wacht am Morgen mit der Lösung in der Hand auf.
Chapong ist
begeistert und wird von einem Lachkrampf erfasst, er wirft sich nach hinten,
dann schmeisst es ihn wieder nach vorn, dabei krümmt er sich zusammen, sein
Lachen wird heiser - nach einer Weile wird es peinlich.
"Kanntest du den?"
frage ich ihn.
Chapong schüttelt ein "Nein!" aus dem glucksenden Bauch.
"Aber ich glaube, ich kenne ihn!" bedeute ich ihm vielsagend.
Chapong
erholt sich plötzlich. "Du meinst mich?" fragt er verdattert. "Nein; aber ich
kenne einen anderen!" Er unterdrückt einen erneuten Kicheranfall.
"Erzähl!"
"Ich will keine Namen nennen - es genüge zu sagen, dass er in einem anderen
College wohnt," beginnt er umständlich. "Seine Putzfrau entdeckte jeden Morgen
Spritzer in seinem Zimmer und wusste zuerst gar nicht, woher sie kamen -
hihihihi! -, sogar an den Wänden. Er benutzte keine Papiertaschentücher oder
so
was, versteht ihr? Schliesslich ging sie zum Vorsteher und erzählte ihm,
wie dieser Student sein ganzes Zimmer besudle. Der rief ihn zu sich, und
anschliessend schickte er ihn zu einem Psychiater." Chapong bricht unvermittelt
ab und scheint verlegen. Offenbar ist seine Geschichte zu Ende.
"Und jetzt:
fühlst du dich besser?"
"Nicht ich, Dummkopf!"
"Ja, natürlich. - Was
erzählte dir denn dieser Psychiater?"
"Ich sage dir doch, das war nicht
ich!"
"Das war jener Thai-Freund von dir, nicht?"
"Nein, jemand
anderes."
"Und jetzt, spritzt er unter der Dusche weiter?"
"Wahrscheinlich; ich weiss es nicht."
Ismael grinst. "Als
Morgengymnastik kann ich mir blödere Übungen vorstellen!"
"Siehst du,
Chapong, das sagte ich dir früher schon immer: sei aktiv!"
Albert, der
Hippie, kommt ("Was gibt es hier?"), wirft sich auf Ismaels Bett ("Haste mal 'ne
Zigarette?") und wartet auf Unterhaltung. Seine schmutzigen Füsse vergraben sich
in die Bettdecke. Zwischen fettigen Haarsträhnen und ungepflegtem,
wildwucherndem Backenbart schauen erwartungsvoll zwei flinke, skeptische Augen
hervor.
Nein, er studiere nicht, meint er, er fühle sich angeekelt; am
liebsten möchte er mit mir auf diese Reise gehen - wann ich denn aufbreche?
Auch er kriegt seine Tasse Tee - er schlägt nie was aus, solange es gratis
kommt.
Chapong hat seinen Tee ausgetrunken und verabschiedet sich: er gehe
noch etwas studieren.
"Gehst du an deinem Problem arbeiten?" fragt ihn
Ismael schelmisch, und ich dopple nach: "Hoffentlich bringst du die Lösung
heraus!" "Das sollte ein Kinderspiel sein für einen Mathematiker," ergänzt
Ismael, und ich wieder: "Nimm dir jedenfalls Zeit; Hauptsache ist, du fühlst
dich danach erleichtert!"
Chapong grinst verlegen und zieht langsam die Tür
hinter sich zu, ohne zu antworten.
Albert hat Asien vor zwei Jahren bereist.
Er hat eine Menge zu erzählen und verrät mir nützliche Tips und Adressen. Er
hoffe, bald wieder zurückzukehren, aber vorerst müsse er noch diese Scheiss-Uni
abschliessen. Ich hätte ja Schwein in dieser Beziehung - woher ich eigentlich
das Geld nehme?
Ich könne es ihm leider nicht sagen, bedeute ich ihm.
Ob
ich arbeite? - Nein. - Ob ich ein Stipendium beziehe? - Ja, aber das decke nur
die Uni-Gebühren. - Also dann? - Also dann was? - Woher ich mein Geld nehme! -
Ich hätte vor zwei Jahren in Darwin gearbeitet, als Sandstrahlputzer. Guter Job
das, und verdammt gutes Geld! Und eine hübsche Stadt, Darwin. Nordterritorium! -
Er wisse, wo Darwin liegt. Aber ich wolle doch nicht etwa behaupten, die ganzen
zwei Jahre von diesem Geld gelebt zu haben!? - Ich hätte noch andere Quellen. -
Vom Alten? - Nein. - Dann? - Ich könne es ihm wirklich nicht sagen. - Durch
dunkle Geschäfte? Scheckfälschen? Ob ich überhaupt wisse, wie man Schecks
fälscht? Er hätte es einmal gemacht... Ob ich ihm denn wirklich nicht sagen
könne, wie ich zu Geld komme? - Nein, wirklich nicht.
Ismael grinst. Auch
ich amüsiere mich nicht schlecht. Der faule Albert sitzt auf Nadeln: nur zu gern
würde er erfahren, wie man am bequemsten zu schnellem Geld kommt.
"Dieser
Tee ist übrigens ganz hervorragend, Ismael!" bemerke ich.
"Danke, Lawrence!
Findest du ihn auch gut, Albert?"
Albert winkt ab. Er ist nicht zu Spässen
aufgelegt.
Es wird spät. Von irgendwoher hat Albert Wind bekommen, das
Ranthir bei mir vegetarisch kochen kommt; nun möchte er zusammen mit seiner
Freundin an diesem Essen teilnehmen. Im Gegenzug erklärt er sich bereit, für
sämtliches Geschirr zu sorgen.
Ich habe nichts dagegen - solange Hassan
nicht kommt.
Ismael lehnt ab. Als Muslim hält er nichts von indischem
Pflanzenfrass.
Mittwoch, 9. September
Fragte mich eben: wie verbringe ich eigentlich meine Zeit?
Weiss nun:
trinke zuviel, rauche zuviel, kraule dauernd meinen Bart.
Seit zwei Stunden
sitze ich vor dieser Schreibmaschine und habe noch kein
Wort geschrieben -
doch, jetzt ein paar Zeilen...
Mein Leben ist wie ein Auslassungszeichen. Im
Grunde genommen sogar nur eine Auslassung, ohne das Zeichen. Hier:. Das war mein
Leben.
Die Zeichen muss ich erst noch setzen. Hier zum Beispiel: adfmav
bnaow4jkr vaoiadskjbrel. Möge dies jemand entziffern und mehr darin erkennen.
Auf mein schnurriges Bartkraulen hat mich Anita zuerst aufmerksam gemacht. Es
geschieht aus reiner Langeweile. Und wenn ich einmal damit begonnen habe, kann
ich nicht mehr damit aufhören. So verbringe ich dann den Tag.
Sollte ich ihn
beseitigen? Ich meine den Bart.
Interessantes Detail am Rande: Immerhin
versuchte ich angestrengt herauszukriegen, nach welchem Muster genau ich den
Bart kraule. Scheine da offenbar einen verzwickten "Eins-zwei-und-eins-zwei,
Eins-zwei-und-eins-zwei"-Rhythmus entwickelt zu haben, wobei ich auf die erste
"Eins" mit Daumen und Mittelfinger ein Büschel Barthaare anzupfe, die ich dann
auf "zwei" um den Zeigefinger wickle und auf "und" und die zweite "Eins"
nochmals kurz über den Rücken des Mittelfingers gleiten lasse; beim zweiten
Durchlauf schliesse ich dann den Zupf mit einem einfachen Wickel um den
Zeigefinger ab, wobei die zweite "Zwei" eine Pause darstellt. Alle fünf Minuten
oder so wechsle ich zu einem anderen Büschel über, damit sich das erste ausruhen
kann; und alle halbe Stunde oder so zupfe ich mir zur Abwechslung ein einzelnes
Haar aus (manchmal fällt eins auch von alleine aus), die schmerzende Stelle
desinfiziere ich anschliessend mit ein paar Tropfen After-shave.
Das ergibt
eine interessante Problemstellung: jemand besitzt einen Bart bestehend aus X
Barthaaren, und er beginnt ebendiesen Bart am Tag Y zu kraulen. Er krault ihn
durchschnittlich während Z Stunden pro Tag. Nach wie vielen Tagen...?
Scheisse, wäre doch besser Mathik-Lehrer geworden! Muss Walter nochmals
darauf ansprechen!
Oh Gott, krault dein Prophet auch in seinem gepriesenen
Bart? Dann zähle die Tage...!
Mein Leben befindet sich in der Schwebe.
Wie ein Drache im Frühling
schwebe ich in der lauen Luft und treibe hierhin und dorthin. Eine unsichtbare
Schnur hält mich zurück und verbindet mich mit der Erde unter mir.
Flügel
müsste man haben! Wenn ich Flügel hätte, flöge ich endlos über die Erde, hierhin
und dorthin, und liesse mich forttragen, so lange und so weit ich wollte. Mit
ein paar Flügelschlägen würde ich meine Richtung beliebig verändern, ich könnte
zurückkehren oder mich schneller entfernen, in die Höhe steigen oder
herniedergleiten, wenden und kehren, kreisen und schweben -
Ich liebe die
Schwebe. In der Schwebe stehen einem sämtliche Möglichkeiten offen. So wie mir
eben jetzt. Auch mir stehen sämtliche Möglichkeiten offen - ich kann sogar
zurück an die Uni, wenn ich unbedingt will.
Man muss nur wissen, was man
will, das ist das Problem. In dieser Beziehung ist die Schwebe ein unpraktischer
Zustand. Nach der Methode der eliminierenden Selektion dauert es bei diesem
Modell Äonen, bis eine klare Richtung erkennbar wird.
Und im übrigen ist
mein Problem nicht so sehr praktischer denn prinzipieller Natur: im Grunde
genommen geht es nämlich einzig um das Problem der transzendentalen
Grundbestimmung des Menschen, die sich in ihrer ursprünglichsten Form auf die
Frage reduzieren lässt: WAS SOLL ICH TUN?
So, das hat mich nun wieder
zwanzig Minuten gekostet. Vielleicht sollte ich Philosoph werden? Wieviele
Kilobrote verdient wohl der so pro Fragezeichen?
Muss unbedingt
Walter darauf ansprechen.
Habe soeben meine Tagebuchnotizen etwas durchgeblättert. Sieht bedenklich
aus! Da stehen Kraut und Rüben durcheinander, wildes Zeugs, das niemand versteht
- so geht das natürlich nicht!
Ich muss da mehr Linie reinbringen. Da
wimmelt es von Ausflüchten und Paraphrasen, von Auslassungen und vernebelten
Anspielungen - scheusslich! Da beginne sogar ich, an meinem Genie zu zweifeln.
Dabei muss man unbedingt an sein Genie glauben, wenn man etwas erreichen will im
Leben.
Also: bevor da nicht Ordnung herrscht, unternehme ich gar nichts. Wie
kann ich mir anmassen, Grösseres anzupacken, wenn ich nicht einmal in der Lage
bin, ein ordentliches Tagebuch zu führen?
Ich sehe schon: ich bin noch weit
davon entfernt, auf die Verwirklichung eines künstlerisch anspruchsvollen Werkes
hoffen zu dürfen. Ich muss eben so lange üben, System und Kontrolle in meinen
Wortfluss zu bringen, bis die Voraussetzungen erfüllt sind, mich an etwas
wirklich Ernsthaftes zu wagen; sonst vermassle ich womöglich noch ein
Meisterwerk.
Ich könnte mich in Kurzgeschichten üben. James wollte immer,
dass ich eine Geschichte über ihn schreibe. Einmal hatte ich sogar schon mit dem
ersten Kapitel einer Kurzgeschichte begonnen, aber dann wieder aufgehört.
James, ha! Das waren noch Zeiten! Weiss der Teufel, was sich seither
ereignet hat.
Schreckliche Erkenntnis: muss auf mein Alter aufpassen. Machte eben eine
kurze Hochrechnung und weiss nun: werde zu alt.
Wenn ich da an die drei
kichernden Mädchen gestern an der Bar denke, fühle ich mich schon fast wie ein
Grossvater: null Bock, wie der Jäger sagt.
Ich werde alt.
Was habe ich
in meinem Leben erreicht?
Was habe ich gelernt, ausser dem Ekel?
Donnerstag, 10. September
Drunten am Hafen. Wir warten auf die Abfahrt von Martins Schiff.
Sein
Boss war auch gekommen, mit Filmkamera und Champagner. Er filmte nicht nur
Martin, sondern alles und jeden. Anschliessend tranken wir in Martins enger,
niedriger Kajüte den Champagner. Dichtgedrängt standen Leute herum, die ich zum
Teil gar nicht kannte, die aber offenbar zu uns gehörten oder zu den anderen
beiden Passagieren, die mit Martin die Kajüte teilten.
Martin hielt sich an
seinen Boss. Dieser hatte bis zuletzt versucht, doch noch eine
Aufenthaltsgenehmigung für ihn zu bekommen - ohne Erfolg: Martin hatte damals
ausschliesslich für Studienzwecke einreisen dürfen, und jetzt, da er nicht mehr
studierte, musste er nach den Bestimmungen wieder ausreisen. So nahmen sie nun
Abschied voneinander und tranken viel Champagner und waren ziemlich laut,
während wir übrigen - darunter viele Chinesen aber auch Aussies - mittranken und
mit Gelächter und lauten Zwischenrufen zur gehobenen Stimmung beitrugen.
Stephen und Miung standen neben mir, nahe dem Eingang. Sie wussten nicht so
recht in die Fröhlichkeit der andern miteinzustimmen, und so verlegten sie sich
aufs Grinsen und sorgten dafür, dass mein Glas nie leer wurde.
Dann
erschienen auch Francis und Hassan in ihren filzigen Kostümen. Martin strahlte
zufrieden und hiess auch sie willkommen und gab ihnen zu trinken - und dann
standen sie grinsend und etwas verunsichert vor der Kajütentür rum und nippten
sparsam an ihren Getränken.
Sie fragten mich, wie es mir gehe, und ich
sagte, gut, wie es ihnen denn selbst gehe, und sie nickten grinsend und sagten,
oh ja, auch ihnen gehe es gut. Und dann musste auch ich grinsen, obschon ich
eigentlich wütend sein wollte, aber dann sagten wir nichts mehr. Nur einmal bat
mich Hassan um Feuer für die indischen Tabakblätter, die Francis und er sich zu
winzigen, stinkigen Zigaretten rollten.
Um halb fünf mussten wir das Schiff
verlassen. Wir verabschiedeten uns endgültig von Martin, und ich versprach ihm,
dass ich ihn auf der Durchreise in Malaya bestimmt besuchen würde, und er
bedankte sich nochmals dafür, dass er einige Wochen bei mir hatte wohnen dürfen.
Dann ging ich mit Stephen und Miung auf eine kurze Besichtigungstour durch das
Schiff, und wir waren uns einig, dass wir eigentlich gut und gerne als blinde
Passagiere mitfahren könnten - wenngleich das Schiff einen eher schmuddeligen
Eindruck erweckte. Schliesslich gingen auch wir von Bord.
Auf dem Quai vor
dem Schiff drängte sich eine dichte Menge fröhlicher und zum Teil trauriger
Menschen, die wie wir alle auf die Abfahrt warteten. Wir fanden die Gruppe von
Martins Freunden nicht sofort, und so drängten wir uns irgendwo durch die Menge
nach vorn bis zur Quaimauer direkt vor dem Schiff und suchten die Decks nach
Martin ab.
Und seither stehen wir nun also hier und warten auf die Abfahrt
des Schiffes.
Gelegentlich winkt einer von uns zu Martin hinauf, der in der
Zwischenzeit auf Deck erschienen ist. Nachdem er zunächst noch den Clown
gespielt hatte, ist er jetzt ruhiger geworden.
Natürlich verreist er nicht
gern. Er weiss nicht, was er in Malaya tun soll, während er hier viele Freunde
und einen gutbezahlten Job zurücklässt.
Ich wäre bereit, mit ihm zu
tauschen. Auch ich wüsste zwar nichts in Malaya anzufangen, aber ich wäre
wenigstens weg und unterwegs und würde nicht untätig hier rumstehen und warten.
Ich finde überall Freunde. Ob hier oder beliebig woanders: sie sind nur
Marionetten in einem Spiel und jeder einzelne von ihnen austauschbar; man kann
sie beliebig umkleiden oder überhaupt weglassen, ohne dass sich etwas ändert am
Spiel.
Jetzt spielen wir Abschiedstheater. In der Hauptrolle sehen wir
Martin Fung Tu-ang, von chinesischer Abstammung, Exstudent und Autobiograph in
spe, bei seiner Rückfahrt nach Malaya. Er spielt ein lausiges Theater. Lasst uns
ihn auspfeifen!
Seine Freunde spielen besser. Sie lachen und scherzen und
werfen Papierschlangen, und einer filmt sogar - aha! dort drüben steht der
Champagnerboss. Er filmt unsere Abschiedsszene, um ihr die dokumentarische Tiefe
und den erwünschten künstlerischen Anstrich zu verleihen.
Musik vermisse
ich. Ein Spiel bedarf einer gewissen Klangfarbe. Sogar eine Militärkapelle wäre
in diesem Fall willkommen: um etwas Takt in den Himmel zu posaunen.
Aber so
haben wir nun die Farbe ohne den Klang: die Farbe der vielen Papierschlangen,
die von den Schiffdecks herunterhängen und zum Teil auch nutzlos im Wasser
schwimmen.
Papierschlangen haben symbolische Bedeutung: zuerst sind sie
zusammengerollt und halten still; dann wirft man sie seinem abschiednehmenden
Freund zu; und wenn beide Freunde je ein Ende der Schlange in den Händen halten,
dann sind sie noch nicht getrennt und die Schlange hält Frieden - wenn nicht,
flattert die Symbolik im Wind.
Verdammt! Wenn das Schiff nicht bald abfährt,
gehe ich mich im Terminal betrinken! Ich hasse Abschiede! Und ich hasse farbige
Papierschlangen!
Weiter hinten entdecke ich Francis und Hassan. Sie sind
auch farbig. Noch immer rauchen sie ihre ekelhaften Tabakblätter. Francis
unterrichtet kleine Kinder im Werfen von Papierschlangen. Der Trick besteht
darin, dass man das eine Ende gut festhalten muss.
"Was meinst du?" Der
kleine Stephen will etwas.
"Ich sagte, du bist so schweigsam geworden."
"Selbst Götter schweigen, wenn Grosses bevorsteht."
"Wieder in einer
deiner Launen, hein?"
"Was weisst du schon über meine Launen, du Missgeburt
einer chinesischen Spitzmaus."
"Ha! Renz ist traurig, weil sein
Geschichtenerzähler abreist," spöttelt die Maus, zu Miung gewandt. "Keine
Gutenachtgeschichte für dich heute Abend, hein, Renz?"
"Nein, aber
vielleicht könnte ich dich als Hofnarr anstellen."
Darauf weiss der
Spassvogel keine Antwort. Er piepst nur, solange die Beherrscher der Lüfte
schweigen. Spitzmäuse gehören nicht in die Luft.
Schlangen auch nicht. Von
Bord des Schiffes flattert schon ein dickes Bündel Symbolik im Wind - die
falsche Symbolik. Die richtige Symbolik ist in der Minderheit und zerreisst,
wenn das Schiff abfährt: Rrrrätsch!
Vielleicht hört man es nicht einmal?
Dazu bedarf es wohl stärkerer Symbolik. Jemand hätte Francis und Hassan an Bord
werfen sollen: die würde man hören. Mensch, möchte ich die beiden zerreissen
hören!
"Siehst du die hübsche Frau dort oben?" erkundigt sich die Maus. "Sie
sieht beständig zu dir runter."
"Welche Frau, Mäuschen?"
"Jene dort."
"Sie schielt, sie schaut dich an. Soll ich dich hochheben, damit sie dich
besser sieht?"
"Ich möchte gern an Martins Stelle sein. All die hübschen
Frauen an Bord!"
"Wenn du nicht so leicht wärst, könnte ich dich an Bord
werfen. Aber bei deinem Spitzmäuschengewicht besteht ja die Gefahr, dass dich
der Wind abtreibt."
"Und dann verliert Renzie seinen neuen Hofnarr," lacht
Miung.
"Genau!"
Komm, Schiff, tu mir einen Gefallen, dampf ab und
zerreiss deine Symbolik! Haben wir noch nicht genug Abschied gefeiert? Wir
feiern seit zehn Uhr morgens: in meiner Wohnung, in Martins Bar, im Restaurant,
im Terminal, in der Kajüte, jetzt auf dem Quai - man kann doch nicht pausenlos
auf der Bühne rumstehen, ohne zwischendurch auszutreten, um die nächste Szene zu
memorieren?!
Diese Quai-Szene zum Beispiel: Ich kenne nicht mal meine Rolle,
geschweige denn meinen Text! Man steht doch nicht auf der Bühne rum, ohne ein
Wort zu sagen! Und wenn Stephen und Miung nichts sagen, muss doch offenbar ich
etwas sagen - aber was?
"Hattest du keine Vorlesungen heute Nachmittag?"
"Nein."
Da haben wir's: Spitzmaus hatte keine Vorlesungen heute
Nachmittag!
"Und morgen?"
"Ja."
"Und übermorgen?"
"Was ist los,
spinnst du?"
Hopla, mein Fehler! Muss mich in der Szene geirrt haben!
"Denk nur, wie glücklich du auf diesem Schiff wärst! Statt morgen
Vorlesungen zu besuchen, könntest du jetzt auf hoher See hübsche Frauen
verführen!"
"Das sagte ich dir ja vorhin schon!"
"Eben!"
Ich bin für
Stummfilme. Oder für Unterwassertheater. Schiff, wird's bald?
Ich beneide
Martin. Der braucht bloss dort zu stehen und traurig dreinzuschauen, und schon
hat er seine Hauptrolle gespielt. Ich wäre besser mit ihm gereist. Dann nähmen
wir jetzt eine Doppelhauptrolle ein, und jeder bräuchte nur die halbe
Traurigkeit zu spielen.
Dann könnte ich jetzt auch schiffahren. Ich liebe
Schiffe - vor allem Segelschiffe. Am liebsten würde ich mich in ein Segelboot
legen und mich für den Rest des Lebens auf den Meeren herumtreiben lassen. Zur
Abwechslung würde ich jeweils mit den Fischen etwas Unterwassertheater blubbern
oder mit den Möwen die Ballade vom Wind kreischen - und wenn es mir ganz
langweilig wird, ginge ich irgendwo vor Anker um Spitzmäuse zu fangen - und
schon könnte ich wieder mit richtigen Professionellen Theater piepsen.
Die
Ballade vom Abschied: "Piiiiiiiiep! Pi-pi-pi-pi-piiiep-piiiiiep!"
"Sonst
geht es dir gut?" Spitzmaus hat keinen Sinn für Klangfarbe.
"Ich friere.
Dieser Jammerkahn dürfte langsam Wasser schaufeln, wenn du mich fragst."
"Ich würde aber nicht dich fragen; ich würde den Captain fragen."
"So,
würdest du? Ha-ha-ha! du bist aber wirklich drollig. Ich glaube, ich befördere
dich zur Graumaus!"
"Du bist aber auch ausserordentlich drollig, muss ich
schon sagen."
"So, musst du, hein?"
"Ja, muss ich!"
"Piiiiiiiep!
Pi-pi-pi-piiiiiiep! He, Miung, mir wird's zu kalt hier. Ich geh mal ins
Terminal."
"Warte doch, bis das Schiff fährt," bettelt der feiste Miung. "Es
kann nicht mehr lange dauern."
"Mir geht's zu lang. Ich warte im Terminal
auf euch."
"Okay, ich komme auch mit. Hier passiert sowieso nichts mehr."
"Wir gehen drinnen etwas trinken, und wenn das Schiff abfährt, kommen wir
wieder raus und winken zum Abschied, okay?"
"Okay."
Viele Leute scheinen
ebenfalls und noch vor uns die Geduld verloren zu haben: die Reihen haben sich
gelichtet. Und der Boss hat offenbar keinen Film mehr: er hat aufgehört zu
filmen.
Francis und Hassan noch immer da: filzig und sudlig und lumpig und
schlapp.
Abfahrt, ahoi! Lasst uns den Abschied begiessen!
Freitag, 11. September Mitten in der Nacht
Herrlich, endlich wieder allein zu sein! Liege in meinem Bett und geniesse
es, faul da zu liegen und genüsslich vor mich hin zu dösen.
Draussen
herrscht stockdunkle Nacht: Neumond. Und nicht das zarteste Geräuschchen stört
die Stille dieser Nacht.
Welche Ruhe! Welcher Frieden!
6 Uhr 30
Welch überwältigendes Gefühl, so früh am Morgen zu erwachen!
Draussen
wird es hell. Von meinem Bett aus sehe ich ein grosses Stück klaren, blauen
Himmels; und ich sehe, wie ein leises Lüftchen mit den feinen, weissen Gardinen
vor dem Fenster spielt.
Welch herrlicher Tag!
Und ich bin ein Teil
davon. Ich fühle mich so leicht in meinem Bett - ich bin ein Teil seiner
füllenden Wärme in der ich schwebe - wie das laue Lüftchen, das sich um die
Falten der Gardinen kräuselt - und ich bin ein Teil des klaren Himmels, der sich
wie ein Lichtstrahl im Glas des Fensters bricht - und das Licht ist Teil meines
Haares, dem es seinen Glanz verleiht - und mein Haar ist Teil des duftenden
Kissens - Teil der schwebenden Helle des Zimmers - seines feinen, schlummernden
Duftes - und ich bin ein Teil des Teils...
Kurz vor 11 Uhr
Nun, es wird wohl langsam Zeit, dass ich aufstehe.
Aha! draussen rührt
sich was. Der geübte Tagesverkehr, das geordnete Kleinstadtgeschnatter hat
eingesetzt.
Ein prächtiger Tag! Wolkenlos und warm, beinahe windstill - das
ist des Winters Ende, das bedeutet Frühling!
Welch wunderschöner, herrlicher
Tag!
Ah! wie wohltuend es ist, sich in seinem Bett zu räkeln und zu
strecken.
Gestern habe ich bis in alle Nacht hinein noch aufgeräumt und
Martins zurückgelassenen Mist sortiert. Jetzt gehört die Wohnung endlich wieder
mir, und sie ist wieder sauber und -
Sie sieht so friedlich aus? Das muss
von den Farben herrühren: vom matten Gelb der Wände, dem lichten Grün des
Teppichs, dem leuchtenden Rot der Decke auf dem Bett -
Meine Wohnung ist
eine Stätte des Friedens, wie das Auge eines riesigen Zyklons. Hier regt sich
nichts - doch draussen wirbelt die Welt im Sturm und dreht sich taumelnd im
Kreise!
Hier herrscht Ruhe. Hier prangen unter blauem Himmel die Schweizer
Alpen kalt und säuberlich in ihrem schneebedeckten Panorama an der Wand, und
hier blickt, spöttisch hinter der Goldfisch-Bowl grinsend, das nacktbusig feist
sich brüstende Playgirl direkt ins Bett hinunter zu mir.
Gott, wie man sich
wohlfühlt im Bett!
Trotzdem seltsam diese Ordnung, die heute in meiner
Wohnung herrscht. Sogar Martins Matratze streunt nicht wie sonst jeden Morgen
quer vor dem Sofa-Tischchen auf dem Boden herum, sondern ruht gefällig und
ordentlich neben mir hier auf dem Doppelbett. Ich fühle, wie ich selbst, hier
und jetzt, am richtigen Ort bin, zur richtigen Zeit. Und ich hätte Angst, wenn
ich jetzt aufstünde, dass ich die ganze Ordnung störte und eine wirsche Unruhe
in die vorherrschende Harmonie brächte. Ich schämte mich, einen abschätzigen
Blick meines Fisch-Weibs einzufangen - oder ein eisiges Runzeln der alpinen
Gletscher zu erdulden.
Lieber rühre ich mich gar nicht.
12 Uhr 30
Bereits Nachmittag, und immer noch im Nest! Lächerlich!
Jetzt aber mal
raus! Genug ist genug!
Was haben wir heute? Freitag?
Freitag!
Gestern war Donnerstag; da brachten wir Martin zum Hafen.
Richtig!
Freitag - da geht niemand zum Hafen.
Und morgen ist Samstag. Morgen
kommt Ranthir, um hier seinen indischen Gemüse-Curry zu kochen.
Albert der
Hippie hat versprochen, vorbeizukommen und eine Liste der Zutaten zu bringen,
die Ranthir benötigt. Wird wahrscheinlich heute Nachmittag aufkreuzen.
Morgen habe ich versprochen, Pat zu besuchen. Pat will mir von seiner
letztjährigen Europareise berichten. Dazu hat er mich schon vor einer Woche
eingeladen - das fand ich so komisch.
Wen soll ich heute besuchen? Früher
oder später muss ich ja doch aufstehen - und dann will ich hier so rasch wie
möglich weg.
Verdammt! Weshalb gefällt es mir eigentlich so gut in diesem
Bett? Und weshalb bin ich heute so müde?
Das muss am Frühling liegen. Ich
leide an Frühjahrsmüdigkeit. Draussen sieht man den Beweis: es ist wolkenlos und
warm - typisches Frühlingswetter.
Dabei haben wir offiziell noch immer
Winter, bis zum 22. September oder so. Das sind nochmals - was haben wir heute?
- zehn oder zwölf Tage.
Aber schliesslich macht das Wetter den Frühling, und
nicht der Kalender. Ich folge dem Wetter, und das Wetter hat Frühling, und
deshalb bin ich müde - wozu also schon aufstehen?
"Ich sagte dir ja, du findest ihn im Bett!" Ismael und Albert!
"He,
Renzie, was machst du um halb zwei eigentlich noch im Bett?"
Ich vergrabe
meinen Kopf im Kissen.
"Das ist unglaublich! Schläft dieser Faulpelz doch
tatsächlich bis um halb zwei!"
Schon recht, schon recht, ich hab's gehört,
es ist halb zwei, brauchst es nicht zweimal sagen!
Ich hieve meinen Kopf aus
den Kissen. "Bin gestern spät ins Bett!"
Albert nähert sich mit seinem
wulstigen Grinsen zwischen Schnurr- und Barthaaren, und mit den boshaft
leuchtenden Äugchen mitten im struppigen Gesicht. Irgendwie sieht er aus wie
einer der sieben Zwerge aus Schneewittchens Märchen.
Was stimmt nicht mit
halb zwei? Ist doch 'ne tolle Zeit! Die Hälfte des Tages verschlafen - das nenne
ich werken! Nächstens versuche ich mich an zwei Dritteln! Zuletzt kriegen wir
auch noch das Ganze hin!
"Ich habe dir eine Liste der benötigten Zutaten
mitgebracht," spricht der Zwerg und setzt sich auf den Bettrand.
Zutaten?
Für exotische Gerichte? Welch seltene Kräuter mischt er wohl in seine
sagenumwobene, märchenhafte Kost?
"Ranthir hat sie zusammengestellt."
Ranthir, der Inder! Der schwebende Geist hinter den dunstigen, fernen
Bergwäldern! Herrscher über Zwerge und Feen, Hüter der Sagen - Verwalter von
funkelnden Schätzen - der Träger urzeitalter Rezepte feinster, erlesenster
Speisen! "Ich grüsse Ranthir!" spreche ich feierlich und reibe meine verklebten
Augen.
Der Zwerg klaubt einen zerknitterten Zettel aus der Jackentasche und
glättet ihn auf seinem Hosenbein aus. "Wahrscheinlich hast du ohnehin das
meiste, was wir brauchen," meint er. "Schau dir die Liste an. Wenn was fehlt,
können wir es gleich einkaufen gehen."
"Gib sie Ismael, der kennt sich hier
besser aus."
"Was?!" ruft Ismael in gespielter Entrüstung und nähert
sich zwei Schritte.
"Ich bin doch hier nicht zu Hause!"
"Fühlt euch zu
Hause. Nehmt ihr Kaffee? Die Küche steht zu eurer freien Verfügung."
"Du meinst, wenn wir Kaffee wollen, müssen wir uns selber welchen brauen."
Ismael grinst, er lenkt ein: auf ihn kann ich mich verlassen.
Der Zwerg
steht auf. "Komm, Ismael, gehen wir die Liste durch."
Seltsam der Zwerg
heute: sehr kooperativ. Ist überhaupt ein seltsamer Tag.
Die beiden gehen in
die Küche, machen Inventar; Ismael spült Gläser.
Ich stehe auf, ziehe meinen
Baderock an und breite die Bettdecke über dem Bett aus.
Ein guter Tag,
sonnig und warm. Ich mache Musik, ergreife mein Badetuch. Ein friedlicher,
milder Tag.
In der Küche hat Ismael Wasser zum Kochen aufgelegt. Drei Krüge
stehen bereit, in jedem befindet sich Kaffeepulver.
"Ich gehe mal schnell
unter die Dusche. Ich sehe, ihr kommt auch ohne mich zurecht."
Ismael
grinst. Er grinst immer, wenn er mir etwas nachsieht.
Albert dreht sich um.
"Hast du keinen Safran?"
"Safran? Nein, ich glaube kaum."
Ich trete
hinaus und wandle wie im Traum nach hinten, gegen den Hinterhof zu. Die Dusche
ist frei. Ich trete ein, verriegle die Tür, ziehe den Baderock aus; ich stelle
mich unter die Brause, drehe das Wasser an.
Brrrr! heute erlebe ich alles
wie durch einen Schleier. Hatten wir Alkohol gestern? Mein Kopf ist in Ordnung -
nur die Glieder sind schlapp.
Es ist gut, Freunde zu haben. Sie wecken einen
am Morgen (Nachmittag) auf und brauen Kaffee, während man duscht - ohne sie wäre
ich heute wahrscheinlich überhaupt nicht aufgestanden.
Ich schüttle mich
aus, schüttle mich wach. Puh! welcher Tag. Welcher Nachmittag! Das Leben fliesst
an mir ab - wie das Wasser in das runde Abflussrohr - wie der Dampf, der aus dem
Fenster zieht...
Albert und Ismael haben eine Einkaufsliste zusammengestellt.
"In
Ordnung?" fragt Albert.
Ich werfe einen Blick drauf. "Sicher!"
"Wenn du
willst, kann ich die Einkäufe gleich selber besorgen. Es bringt ja nichts, wenn
wir alle in der Stadt herumrennen, wenn es auch einer allein besorgen kann."
"Sicher - völlig deiner Meinung."
"Dann beginne ich gleich heute
Nachmittag und bringe alles hierher - morgen können wir uns dann die Kosten
teilen."
"Okay."
"Schön; also dann, bis später. Kommst du auch gleich,
Ismael?"
Ismael beginnt wieder zu grinsen. "Ich glaube, ich bleibe noch für
eine Partie Schach." Er fühlt sich plötzlich sehr zu Hause.
Albert
verabschiedet sich. Ismael geht ins Wohnzimmer und stellt die Schachfiguren auf.
Ich schlürfe Kaffee.
Auch der Kaffee weckt mich nicht. Heute bin ich Pappe.
Heute bin ich Leinen, das in der Luft flirrt. Ich fühle mich irrelevant - wie
der schwarze König, den Ismael vom Boden aufhebt und in sein Feld stellt - wie
der Turm, den er in die Ecke rückt, oder die Bauern, die er an die Front schiebt
- wie eine beliebige Figur, mit der man spielt, die man gebraucht, verschiebt,
einsetzt, riskiert, verliert...
"Oh, übrigens!" - Ismael schreit, um die
Musik zu übertönen, die er aufgelegt hat: "Saïd sagt, er werde über die
Sommerferien ebenfalls heimgehen. Er will auch etwas in Malaya herumreisen. Er
will an die Ostküste, und in den Norden bis an die Grenze zu Thailand."
"Hm!"
"Was sagst du?"
"Ich sagte," schreie ich, "nichts!"
"Das
wäre doch ideal für dich!" schreit Ismael zurück. "Saïd kennt sich gut aus in
Malaya. Und sicher wäre auch er froh, einen Reisegefährten zu haben."
"Wo
kommt er eigentlich her?"
"Von Malakka."
"Ah!"
Mein Kaffee ist alle.
Und meine Füsse frieren. Der Kachelboden ist eisig kalt.
Ich gehe ins
Wohnzimmer und stelle meine Füsse auf den grünen Spannteppich und schaue zu, wie
Ismael die letzten Figuren auf ihre Plätze weist.
"Du bist grossartig. Du
organisierst meine Reise praktisch von A bis Z, ohne mein Zutun..."
"Ich
weiss!"
"...bist du derart versessen darauf, mich loszuwerden?"
"Im
Gegenteil! Ich verliere ungern einen Freund!" Er wird verlegen. Das Schach ist
aufgestellt, und er hat nichts mehr zu tun. "Bist du bereit?" fragt er mich.
"Dann spielen wir eine Partie."
"Okay. Ich mach mir bloss noch etwas mehr
Kaffee. Willst du auch noch eine Tasse?"
"Ja, gern."
Zurück in die
Küche, auf den kalten Fussboden. Wasser. Elektrischer Siedekrug. Krüge waschen.
Klopf-klopf! Besuch kommt.
"Herein!" Kaffeepulver in die Tassen.
Die
Küchentür öffnet sich. "Hallo, jemand zu Hause?" Fanny streckt den Kopf herein.
Sie sieht zuerst Ismael im Wohnzimmer ("Hallo, Ismael!" - "Hallo, Fanny!"), dann
mich hinter der Küchentür: "Hallo, dort! Stör ich?"
"Nein, du störst nicht,
willkommen!"
Zucker in die Tassen. Das Wasser siedet noch nicht.
"Was
machst du denn im Morgenrock, mitten am Nachmittag?" Breites, höhnisches Grinsen
ihrerseits. Sie nähert sich mir wie eine Katze.
"Hab mir eben die Haare
gewaschen."
Sie klemmt mich in die Seite. "Machst dich hübsch für deine
Freundinnen, was?"
"Welche Freundinnen?"
"Grosser Gott, woher soll ich
das wissen? Deine Freundinnen eben, die du zu einer Tasse Kaffee einlädst!" Sie
zwinkert mir zu und gibt mir mit der Hüfte einen Schubs in die Seite. Das Wasser
kocht. So hatten wir uns kennengelernt. Üble Erinnerung.
"Nimmst du auch
eine Tasse?"
"Okay." Wieder ihr konspiratives Grinsen. Sie will ins
Wohnzimmer.
"Warte, trag diese Krüge da rein." Ich schenke das Wasser ein.
"Milch hat's im Kühlschrank - falls es noch welche hat."
"Ich trinke meinen
Kaffee ohne Milch. Oder hast du vergessen?"
"Ismael nimmt Milch."
"Oh,
Ismael nimmt Milch!" Sie geht zum Kühlschrank.
"Was ist?" ruft Ismael aus
dem musikerfüllten Wohnzimmer.
"Nimmst du Milch in deinen Kaffee?" ruft
Fanny zurück.
"Ja, gern!" schreit Ismael.
"Und ich ebenfalls," füge ich
hinzu. "Oder hast du vergessen?"
"Flegel!"
Zucker. Wieviel war das? Ich
sollte Würfelzucker verwenden. Mit Pulverzucker hat man keine Übersicht.
Wasser. Milch hat's schon.
"Würdest du uns Löffelchen bringen,
Lawrence?"
"Ja!"
Ja-ja, Löffelchen! Löffelchen abwaschen, Löffelchen
abtrocknen. Löffelchen hineintragen. "Da!"
"Danke!"
"Bitte!"
Sie
haben ein Partie Schach begonnen - gut so. Sie schwatzen - ich höre nicht hin.
Sie fragen, ich antworte - ich weiss nicht, was.
Ich bin Nebel. Etwas stimmt
nicht. "Ich geh mir eine Omelette braten."
Ja, Martin abgereist. Glücklich?
Ja, jetzt allein. Haushalten. Kochen.
Bratpfanne. Butter.
Zwiebeln: im
Kühlschrank, bereits geschnitten.
Eier.
Es fühlt sich kalt an. Und
dennoch auf eine spezielle Art warm.
Die Form des Eis ist perfekt. Kein Ei
gleicht dem anderen, aber jedes Ei besitzt eine perfekte Form - nicht rund wie
bei einer Kugel, sondern tropfenförmig - eiförmig.
Welche Harmonie! Jedesmal
verschieden - und doch so absolut harmonisch!
Ich will Harmonie. Ich will
absolute Harmonie - Harmonie ist das einzige, was ich will.
Gott, gib mir
Harmonie - und ich folge dir, wohin immer du willst.
Eier sind gesund. Ich
schlage es am Schüsselrand auf - zwei, drei.
Salz. Pfeffer. Etwas Curry.
Keine Tomaten im Haus. Gut rühren. In die Bratpfanne. Kleine Flamme. Teller
abwaschen.
Spielte ein Partie mit Fanny. Verlor. Lächerlich, gegen Fanny zu verlieren.
Ismael vermutete, ich hätte mit Vorbedacht verloren. Verabschiedete sich.
Fanny verabschiedete sich ebenfalls: zwei Stunden später.
Ich sollte
einen Psychiater konsultieren. Das Problem ist, dass der mir auch nicht
weiterhelfen kann: weiss selbst, was los ist mit mir, bin durch in Psychologie.
Trank zuerst eine Flasche Bier. Dann zwei Kaffeegläser Whisky. Versuchte zu
heulen. Ging nicht. Legte Aznavour auf. Ging auch nicht.
Trage immer noch
den Baderock. Liege im Dunkeln auf dem Bett.
So ist das also mit mir: sehr
unbefriedigend. Aber mein Fehler war es nicht.
Was nun?
Zuerst etwas
bessere Musik. Aznavour mag gut sein für die Illusion - aber was ich jetzt
brauche, ist etwas Solideres, Handgreiflicheres: Errol Garner zum Beispiel.
Komm, Errol, gib's ihm - ja! Er hämmert und singt und swingt und stampft mit
dem Fuss den Rhythmus dazu - lauter, Errol! - ja! - bäh-badu-badu-badu -
Worauf es ankommt: zu vergessen. Sich zu erinnern ist in Ordnung - aber die
Erinnerung darf nicht Überhand nehmen. Sie darf keine Gestalt annehmen.
Ich
weiss, ich beging einen Fehler heute. Der ganze Tag stand unter einem
ungünstigen Zeichen.
Zum Beispiel: jetzt ist es kurz vor zehn. Fanny
verliess mich bestimmt vor sieben - das heisst, ich habe drei Stunden vergeudet
mit Nichtstun.
Und ich tue immer noch nichts.
Ich liebe die Dunkelheit. Im Dunkeln sieht man nichts - oder gerade genug, um
eine Schallplatte umzudrehen: bu-badu-badu-badu-
In seinem letzten Brief
(worin er mir mitteilte, dass er das Geld abgeschickt hat) fragte mich Walter,
ob ich mich stark verändert habe? Und er fügte hinzu: nach meinen letzten
Briefen zu urteilen habe er eher den Eindruck, dass sich an meinem alten,
zynischen Weltenkummer gar nichts geändert habe.
Das wär's dann wohl:
niederschmetternd die Feststellung, dass ich meine Jahre damit vergeude, mich
nicht zu verändern. Meine wirren Jahre lassen mich genau dort landen, wo ich
gestartet war: in der Misere, die keine Grenzen kennt und die sich nie ändern
wird.
Was habe ich erreicht?
Ich habe erreicht, die Möglichkeiten zu
erschöpfen, mich jemals zu ändern. Darin war ich meisterhaft: meine
Möglichkeiten zu erschöpfen. Zuletzt schöpfte ich sie gleich kellenweise in den
Eimer.
Was für ein Tag! Er hat irgendwie gut begonnen - und jetzt - ?
"Hallo, Renz!"
Oh Gott!
"Hallo! Bist du's, Yussuf?"
"Ja. Wir
dachten schon, es sei niemand zuhause."
"Doch, doch, ich bin."
"Komm nur
herein, Jane!" Yussufs Schatten in der Küche! Ich hörte ihn weder anklopfen noch
hereintreten. Und dort folgt Janes Schatten. Die jungen Leute von heute haben
keine Manieren!
Ich drehe das Licht an. Es blendet. "Bitte, kommt herein!"
"Wir sahen kein Licht in der Wohnung - aber dann hörten wir die Musik - "
"Ja, die Musik: sie ist etwas laut." Ich drehe die Musik leiser.
"Ich
hoffe, wir stören nicht?" Jane ist etwas verlegen in der Küche stehengeblieben.
Ich frage sie nicht danach, wo Harriet geblieben ist.
"Nein, ganz und gar
nicht. Ich hab eben eine heisse Dusche genommen - und danach fühlte ich mich
dermassen müde, dass ich mich etwas hinlegte und dabei offenbar einschlief.
Bitte, komm doch herein, Jane!"
"Wir waren gerade auf dem Weg zum Weinhaus
nebenan" - Yussuf wühlt in meiner Schallplattensammlung -, "da dachten wir, wir
schauen schnell mal bei dir rein."
"Das ist nett. Gebt mir eine Minute - ich
bin gleich soweit. - Was steht denn diesen Sonntag auf dem Kulturprogramm in
Dalkeith?"
"Ein italienischer Film - mit Mastroianni, glaube ich."
"Kannst du Billette besorgen?"
"Natürlich!"
Gut, ich bin wieder im
alten Trott. Die Frage der Zeit reduziert sich auf jene der Organisation:
Turnschuhe, etwas Eau de Cologne, Pullover - die Zähne werden wir uns mit Wein
putzen.
"Voilà! Gehen wir?"
"Vergiss die Musik nicht!"
Jawohl, die
Musik. Und die Zigaretten. Und: Licht aus!
Das Weinhaus war voll. Jane wollte nicht bleiben, und so fuhren wir zu einem
anderen Haus in Subiaco.
Yussuf erzählte aus freien Stücken, warum er mit
Jane ausgeht. Etwas Abwechslung, meinte er, tue jedermann gut - Harriet gestehe
er schliesslich das gleiche Recht zu. Jane fand diese Haltung stillschweigend in
Ordnung - und ich dem Wein zuliebe ebenfalls.
Ganz wohl in seiner Haut
schien es ihm jedoch nicht zu sein. Jedenfalls drängte er mich, zu einem letzten
Glas mit nach Hause zu kommen. Und dort zeigte sich rasch, dass Harriet seine
liberalen Ansichten mitnichten teilte. Sie zog sich in den Schmollwinkel zurück
und fühlte sich zu Recht hintergangen - und ich unterstützte sie in ihrer
Haltung und fand, dass Yussuf zumindest für einen würdigen Ersatz hätte sorgen
müssen und Harriet nicht einfach mit einer Zweiliterflasche Rotwein allein
zurücklassen dürfen.
Ich fand kaum Zeit auf die Idee zu kommen, dass
möglicherweise ich selbst als Ersatz hätte vorgesehen sein können - da kam Fanny
mit Joan vorbei.
Wir starrten uns während einer langen Sekunde an. Dann
begann sie zu grinsen und rief aus: "Oh! Hallo, Renz! Schon lange nicht mehr
gesehen, was?"
Sie hatte Nerven! Mir kam der Wein zu Hilfe - und mit einem
Mal begann es mir bei Yussuf zu gefallen. Ich bat ihn, seine Gitarre
rauszuholen, und Joan (sie hatte ihre Querflöte mitgebracht) setzte sich zu mir
und begann auf ihrer Flöte zu spielen, während Yussuf versuchte, sie auf der
Gitarre zu begleiten - und dann zündeten wir Kerzen an und tranken weiteren
Wein, bis schliesslich sogar Harriet ihren Missmut vergass und sich ihrer Rolle
als Gastgeberin besann, in die Küche ging und mit Salzstangen und Nüssen
zurückkam und uns fragte, ob wir Kaffee wollten: wir wollten alle. Und während
wir auf den Kaffee warteten und bei Kerzenlicht auf dem Teppich herumlagen,
unterhielt uns Fanny mit ihren unmöglichen Klatschgeschichten und
Backfischwitzen, die kein Ende nahmen.
Dann kam Ahmed. Er hatte in der
Bibliothek studiert, und als er Fanny nicht zu Hause antraf, vermutete er sie
hier.
Joan verabschiedete sich. Ich fühlte mich müde und betrunken und
wollte ebenfalls heim. Joan anerbot sich, mich im Auto mitzunehmen, aber ich zog
es vor, zu Fuss
zu gehen und etwas frische Luft zu schnappen.
Schliesslich begleitete ich Ahmed und Fanny noch bis zu ihrem Haus. Ahmed
erkundigte sich, wie es um meine Reisevorbereitungen stünde. Und Fanny fragte
einmal mehr, was ich denn den ganzen Tag triebe, jetzt, wo ich weder studierte
noch arbeitete.
Die Nacht war kalt und lautlos. Um den Heimweg zu
verlängern, zog ich durch dunkle Nebenstrassen. Zuletzt ging ich noch bei meinem
Postfach vorbei.
Es war keine Post da. Es wäre eine Möglichkeit gewesen.
Ich gehe heim. Dort hätte ich sein sollen.
Möglichkeiten sind Rollen,
die man abrollt - im Briefkasten - vor dem Spiegel - Rollen, die man auf ihre
Tauglichkeit prüft, bevor man sie verwirft.
Und wenn es nichts mehr zu
entrollen gibt, entwirft man sie selbst. Damit das Spiel weitergeht.
Piep!
Piep!
Welch ein Tag! Ich weiss nicht einmal, ob das gut oder schlecht ist, wie er
endet.
Jedenfalls hat er zu lange gedauert. Und sicher ist, dass er geendet
hat: es ist nach Mitternacht.
Ein Tag ist eine Frage der Definition. So wie
der Frühling. Wie das Leben.
Ab jetzt definiere ich die Jahreszeiten.
Samstag, 12. September
Nwafo führt mich in seinem Auto spazieren. Er holte mich im Weinhaus ab, und
jetzt fahren wir mit offenen Fenstern und in gemütlichem Tempo durch die
südlichen Vororte der Stadt. Ich bin in Ferienstimmung. Es ist gut, dem Alltag
aus dem Weg zu gehen und den See entlang spazieren zu fahren.
"Gestern kam
Fanny vorbei."
Wir fahren einen Hügel hinauf, weg vom See. Es gibt keine
Strassen, die direkt um den See herum führen. Diese Erfahrung hatte ich damals
in meinen ersten Tagen in Perth schon gemacht. Man fährt durch die Vororte der
Stadt wie durch einzelne, in sich abgeschlossene Dörfer, die alle ihren eigenen
Charakter und ihr eigenes Zentrum besitzen, in denen sich die Läden gruppieren.
"Was wollte sie?"
Von der Anhöhe aus erhaschen wir einen flüchtigen
Blick auf den See hinunter. Ich liebe diese Ausblicke. Verschiedene Stellen
haben Postkarten-Idyllencharakter. Heute haben wir jedoch keine photographischen
Ambitionen; die letzten Bilder schoss ich vor bald einem Jahr - damals mit
Sarah.
"Sex."
Pat heute Morgen war ein Langweiler. Ich besuchte ihn im
College - und dann ödete er mich mit seinen Geschichten an über Europa und die
Städte, die er besuchte, und die Fahrpreise, die er bezahlte - um von ihm
wegzukommen, lud ich ihn schliesslich ins Weinhaus ein, was er toll fand und
echt europäisch - ausser dass er den Wein nicht vertrug, sodass ich mich
vermehrt der Barfrau widmete: sie stammt aus Melbourne und findet Perth echt
langweilig und sehnt sich zurück nach Melbourne und arbeitet nur hier, um
genügend Geld zu verdienen um nach Melbourne zurückzukehren...
"Und du gabst
ihn ihr?"
Die Segelboote sind noch nicht auf dem See. Dabei haben wir heute
Samstag. Vielleicht segeln sie morgen, morgen ist Sonntag. Etwas haben mich Pat
und die Barfrau gelehrt: man verreist nicht, weil es einem nicht gefällt. Das
Leben bleibt sich überall gleich. Ob hier oder dort: Reisen ändert nichts. Leben
findet in der Ruhe statt, im Bett, auf dem Fussboden, über der Theke. Nicht im
Umherreisen.
"Nein."
Nwafo ist kein Langweiler. Nur einmal liess er sich
aus der Reserve locken, als ich in meiner Wohnung eine Spinne zerdrückte und er
moralische Bedenken anmeldete und sich dabei in eine Diskussion einliess, der er
schon rein dialektisch nicht gewachsen war und die er schliesslich mangels
ausreichendem Wortschatz aufgab und sich dabei masslos aufregte, während die
Spinne ohnehin längst tot und nur noch gleichsam symbolisch an der Wand klebte.
"Nein?"
Die Strasse rollt nach Osten hinunter, dem See entgegen. Wir
nähern uns dem Expressway, der uns über die Narrows Bridge in die Nordhälfte der
Stadt zurückbringt. Südostasien wird fotogen sein, da werde ich wieder
photographieren. In den Broschüren des Reisebüros fanden sich tolle Ansichten
von Vulkanen, Strohhütten und Reisfeldern, von Wasserträgern, kämpfenden Hähnen
und grazilen Tänzerinnen.
"Ich konnte nicht."
Zu Hause sind sie
wahrscheinlich bereits am Kochen. Albert brachte heute Morgen die Sachen vorbei
und sagte, Ranthir würde um vier Uhr kommen, um mit dem Kochen zu beginnen. Ich
sagte, ich könne nicht versprechen, dass ich um vier zuhause sein werde, aber
auf halb sieben sei ich sicher zurück. Bis dann, meinte Albert, sollte das Essen
fertig sein. Jetzt ist es kurz vor sechs.
Wir fahren über die Brücke.
"Nein, siehst du, wir glauben, dass alle Lebewesen beseelt sind." Ranthir ist
sehr darum besorgt, sich richtig verstanden zu wissen. "Wir können kein
Lebewesen töten, das würde seine Seele - eh - verletzen."
"Bist du
abergläubisch?" fragt Albert, der sich unentwegt das Essen in den Mund stopft -
mit den nackten Fingern, wie wir andern auch.
"Oh! das hat nichts mit
Aberglauben zu tun," versichert Ranthir. Er sitzt steif auf seinem Stuhl, wie
eine Statue, mit dem Kinn in die Höhe gestreckt. Und während er in der Linken
seinen Teller hält, beschreibt er mit der Rechten verzwickte Figuren in der
Luft, die seine Ausführungen bildhafter gestalten sollen. "Das ist unsere
Religion. Danach essen die guten Gläubigen keine Teile von beseelten Lebewesen."
Seine Rechte beschreibt ein Auslassungszeichen in der Luft - und dann senkt sie
sich in den Teller, gräbt sich ins Essen und beginnt darin einen Ballen aus Reis
und Bohnen zu kneten.
"Leiden wohl deshalb so viele Inder an
Unterernährung?" frage ich ihn in meiner Rolle als Gastgeber.
"Oh nein,
pflanzliche Nahrung ist sehr nahrhaft! Pflanzen liefern sämtliche Nährstoffe,
die der Mensch braucht!"
"Das wage ich allerdings zu bezweifeln."
"Das
darfst du; trotzdem stimmt es. In einem einzigen Ei zum Beispiel finden wir
genügend Vitamine..."
"Halt, halt!" unterbricht Albert. "Du meinst, ihr esst
Eier?"
"Natürlich!" Ranthirs Rechte hebt den fertig gekneteten Futterballen
über den himmelwärts gerichteten Mund.
"Aber Eier sind doch tierische
Produkte!?"
"Aber keine beseelte!" Der Ballen fällt in den geöffneten Mund,
welcher automatisch zu kauen beginnt.
"Das stimmt aber nicht, dass Hindus
Eier essen dürfen! Als ich in Indien war, durften Hindus keine Eier essen -
Milch trinken übrigens auch nicht!"
Der kauende Mund deutet ein verzeihendes
Lächeln an: "Aber ich trinke doch jeden Morgen zwei Gläser Milch. Du musst mir
glauben, dass wir Milch und Eier geniessen dürfen. Schliesslich bin ich selber
Hindu und sollte es daher wissen."
"Schön, vergiss die Eier." Das bin ich
wieder; ich liebe intelligente Diskussionen. "Was mich an deiner Religion stört,
Ranthir, ist der Mangel an saftigem Fleisch darin. Eine Religion ohne Fleisch
präsentiert sich doch irgendwie - wie soll ich sagen - fade; findest du nicht?"
Nwafo grinst. "Ich sehe den Vorzug auch nicht ein!" Ich hatte ihn nicht ohne
Grund eingeladen.
"Das Fleisch ist verderblich," erklärt der Hindu
vollmundig kauend. Sein Teller ist noch zu drei Vierteln voll. "Im Fleisch sehen
wir das Böse. All unser Streben richtet sich danach, uns vom Fleisch zu
erlösen."
"Da kenne ich bessere Mittel," schnödet Nwafo.
"Lass ihn doch
ausreden!" Albert bekundet plötzlich grosses Interesse. Er hat nichts mehr zu
essen und ist zu faul, seinen Teller in der Küche nachzufüllen.
"Das Streben
eines jeden Hindus ist es, die allerhöchste Seligkeit im Leben zu erlangen." Er
zeichnet etwas in die Luft, was wie ein Pfeil aussieht. "Die können wir nur
erreichen, indem wir allem Körperlichem entsagen und die Wahrheit im Geist
suchen. Durch die Kraft des Geistes besiegen wir die niedrigen Begierden des
Körpers, welche uns an dieses Leben fesseln."
"Ihr glaubt an die
Seelenwanderung, nicht?" Alberts kleine hässliche Puppe bekundet plötzlich auch
Interesse. Ich sehe sie heute zum ersten Mal.
"Ja," sagt Ranthir,
nachdenklich kauend.
"Was versteht man eigentlich genau darunter?" will die
Kleine wissen.
"Wir glauben an die Wiederfleischwerdung," erklärt
Ranthir bereitwillig, ohne jedoch die Puppe anzuschauen. Er blickt immer noch
steif gegen die Decke - wie gen Himmel: die Wahrheit liegt bekanntlich oben.
"Für uns hört das Leben mit dem Tod nicht auf. Wir verlassen bloss eine
Erscheinungsform, um eine andere anzunehmen." Sein in Zeitlupe vorgetragener,
kauender Fanatismus hat etwas Unheimliches an sich. "Dies ist ein Zyklus, der
bis in alle Ewigkeit dauert, und den wir nur sprengen können, indem wir durch
völlige Entsagung in die allerhöchste Seligkeit eingehen." Er hält einen Moment
inne, um seine Rechte wieder in den Teller zu versenken. "Das nennen wir
Moksha."
"Gibt es dort auch Frauen?" Gut, Nwafo, gib's ihm!
Ranthir
lächelt nachsichtig. "Nach dem Moksha gibt es nichts mehr - keine Form, keine
Gestalt, keine Individualität. Moksha bedeutet das totale Vergessen, die totale
Auflösung aller Wünsche und allen Verlangens." Seine Finger kneten bedächtig
einen neuen Futterballen. "Alles Irdische, alle Werte, alles Bewusstsein
verliert seine Existenz; was bleibt ist ewig dauernde Glückseligkeit. Moksha ist
das Eingehen in die göttliche Wahrheit. Moksha ist alles und nichts, es ist
Glückseligkeit."
"Wohl gesprochen, Ranthir, Moksha sei mit dir. Dein Curry
ist übrigens ausgezeichnet - ich geh mir meinen Teller neu auffüllen."
"Nimm
meinen auch mit!" Der faule Albert streckt mir seinen Teller entgegen. Aber
seine Puppe streckt ihm ebenfalls ihren Teller entgegen und flüstert ihm etwas
ins Ohr, mit dem Resultat, dass Albert tatsächlich aufsteht und mir und Nwafo
mit beiden Tellern in die Küche folgt. Die Puppe bleibt mit dem Hindu allein im
Wohnzimmer zurück.
"Dieser Ranthir schwatzt viel Unsinn," meint Albert. "Wie
kann er behaupten, alle Menschen würden wiedergeboren, wenn es dafür gar keinen
Beweis gibt?"
Er schöpft sich eine Kelle Gemüse-Curry auf den Teller. "Ich
zum Beispiel bin mir nicht bewusst, jemals früher existiert zu haben."
"Ich
schon," meine ich. "Ich kann mich an vier, fünf - sechs? - frühere Leben
erinnern. Einmal war ich sogar Clochard in Paris. Tolle Stadt, Paris!"
"Und
ich war einmal Cäsar," meint Nwafo.
"Da fällt mir ein: einmal war ich
Brutus."
"So, du warst das also? Warte, mit dir hab ich noch ein Hühnchen zu
rupfen!"
"Keine Hühnchen, hier! Wir sind unter Vegetariern! Der Hindu kocht
übrigens nicht schlecht, findet ihr nicht?"
"Wenn er nur nicht so viel
schwätzen würde!"
"Ich höre ihm gern zu," meint Albert. Er füllt seinen
Teller so auf, als müsste er ihn mit der Puppe teilen. "Nur scheint er selber
nicht genau über seine Religion orientiert zu sein. Niemand schreibt zum
Beispiel vor, dass ein Hindu Vegetarier sein müsse. Ein Hindu darf nur kein
Kuhfleisch essen, Kühe sind heilig."
"Vorhin hast du behauptet, sie dürften
keine Eier essen."
"Da sprachen wir über Vegetarier."
"Mir ist es egal,
was ein Hindu darf oder nicht darf," meint Nwafo.
"Begreiflich. Als Muslim
interessiert dich nur, wie viele Frauen du halten darfst."
"Ich kann so
viele Frauen halten, wie ich will."
"Ja, aber du darfst nur vier davon
heiraten."
"Wer will denn schon heiraten?!"
"Du ziehst es vor, in der
Sünde zu leben?"
"Ich bin kein Christ!"
Albert füllt den zweiten Teller.
Diesmal schöpft er kleinere Portionen. "Wir werden nicht alles aufessen können,"
meint er.
"Kaum."
"Ich könnte etwas für meine Eltern mitnehmen, die
lieben Curries."
"Ich kann dir dazu die Erlaubnis erteilen - vorausgesetzt,
du hilfst beim Abwaschen."
"Das könnt ihr beide besorgen, du und Nwafo habt
nicht mal beim Kochen geholfen!"
"Aber ich habe immerhin die Küche zur
Verfügung gestellt, vergiss das nicht. Und ihr habt mir die ganze Schweinerei
hier hinterlassen."
"Oh, à-propos: dein Mehlsack rinnt. Als ich ihn vorhin
aus dem Schrank nahm, stob das Mehl nur so herum."
"Wie in einem Windsturm,
eh? Ich wusste gar nicht, dass ich hier Mehl aufbewahre."
"Du füllst es
besser in einen anderen Sack um."
"Hmhm! Komm, lass uns weitere
Hindu-Seligkeiten anhören!"
Wir tragen unsere gefüllten Teller zurück ins
Wohnzimmer. Die Puppe und der Hindu sitzen sich schweigend gegenüber - der Hindu
steif mit gehobenem Kinn andächtig kauend - wie ein Heiliger - wie eine heilige,
wiederkäuende Kuh.
Lud Nwafo ins Kino ein, und dann ins Weinhaus, zuletzt noch zu einer Tasse
Kaffee nach Hause. Zahle gern für ein wenig Unterhaltung. Als er sich vorhin
verabschiedete, bedankte er sich gerührt für den 'netten Abend'.
Netter
Kerl, Nwafo.
Beging jedoch einen Fehler, als ich ihm vorhin von Fanny
erzählte. Hielt es für einen guten Scherz, bereute es dann aber. Meine, an
Glaubwürdigkeit eingebüsst zu haben.
Spinne jedoch nicht, relativ gesehen.
Der Hindu spinnt weit mehr als ich. Zudem mogelt er mit Gemüse.
Nwafo fand,
dass Chapong ebenfalls spinne: unterhielten uns längere Zeit über ihn. Chapong
soll übrigens im College vermisst werden.
Albert spinnt ebenfalls. Sprach
davon, dass er sein Studium aufgegeben habe und sich exmatrikulieren lasse:
hätte so oder so keine Aussicht gehabt, die Prüfung zu bestehen. Jetzt will er
einen Fotografen-Kurs besuchen.
Die Welt spinnt. Sie verstrickt sich in ein
Netz von Illusionen und gibt sich eitlen Hoffnungen hin - bis zu den Sternen
spinnt sie.
Bin richtig zufrieden. Es war ein guter Tag. Fühle mich erhaben
über Leute wie Ranthir. Sie haben ein Problem, von dem sie nur die eine Seite
sehen. Sie sind wie der Mond, der vergessen hat, dass er einen Hintern hat.
A-propos Mond: Er könnte sich ruhig langsam wieder zeigen. Der Himmel ist
zwar bedeckt - vorhin hat es sogar kurz geregnet - aber trotzdem.
Muss
aufpassen, dass ich meine gute Laune nicht verliere. Gehe besser gleich zu Bett.
Kann mich ohnehin nicht richtig konzentrieren.
Sonntag, 13. September
Links die Alpen - weiss, panoramisch. Rechts das nackte Weib: privat.
Zwei Stunden lang habe ich nun dieses Bild betrachtet, seitenverkehrt im
Kippspiegel der Kommode. Zwei Stunden der müssigen Trübsal, der flüchtigen
Reflexion, der matten Einsicht. Ich kämmte mir das Haar - und blieb dabei in der
Fratze meines Spiegelbildes hängen.
Trotzdem erstaunlich, wie lange es sich
unbewusst so meditieren lässt. Verblüffend insbesondere die Öde des Resultats:
ich erinnere mich an nichts, an rein gar nichts.
Zwei Stunden der Leere!
Zwei Stunden, die nicht existieren! Ich kämme mir das Haar - jetzt, vor zwei
Stunden!
Das Weib an der Wand grinst spöttisch. Ich sollte es herunternehmen
- vor allem seit jener Bemerkung von Fanny. Über die Alpen hatte sie damals
nichts gesagt; sie geben sich auch entsprechend schweigend.
Andererseits
fällt mir auf, dass seit einiger Zeit in der Küche etwas raschelt?
Bis vor
zwei Wochen hatte ich kaum Zeit gefunden, zwei Stunden einfach so zu vertrödeln.
Aber dann begann das dritte Trimester, und ich gab das Studium auf... - na ja!
Ich vermisse meinen Thai-Freund Chapong. Er pflegte fast täglich
vorbeizukommen, um Schach zu spielen, aber jetzt soll er verschollen sein. Laut
seiner Putzfrau hat er seit mehreren Tagen nicht mehr im College übernachtet. Ob
er sich eine Freundin zugelegt hat? Eher unwahrscheinlich. Eher hat er sich
irgendwo verirrt.
Im linken unteren Rahmen des Kippspiegels steckt noch
immer der Zweig, den ich einmal vom Kings-Park heimgebracht habe: Eiche oder
sowas. Er ist schon lange verwelkt und lässt seine dürren Blätter steif
herunterhängen - aber bis jetzt ist noch kein einziges Blatt abgefallen.
Am
rechten Rahmen baumelt die afrikanische Perlenkette mit der grossen
Meeresmuschel, die mir Nwafo einmal geschenkt hat.
Darunter die Parfüms, das
Eau de Cologne, das After-shave, der Talk, die Crèmen, die übrigen Accessoires -
der Toilettentisch eines Komödianten.
Wenn ich denke, dass ich tatsächlich
einmal Theater spielen wollte! Mrs
Goodwyn war auf die Idee gekommen: sie
hatte sich an die Produktion eines Stücks gemacht über die Zeit vor der
Kolonisierung Australiens, und darin hatte ich mich für eine Rolle interessiert.
Sie lud mich auch zu einer Probe ein - aber dann vergab sie die Rolle einem
französischen Überseestudenten.
Welches Theater, welch plumpe Leere! Glanz
überall und vielversprechendes Glitzern - und dann: peng! - offenbart sich das
hohle Gesicht, das erkenntnislose, leere Gerippe!
Ich frage mich, was in der Küche so raschelt? Es klingt nicht nach
Küchenschaben; davon gibt's hier zwar jede Menge - aber die rascheln anders.
Hau-ruck! Puh, mein Hintern! Das kommt vom Meditieren! Während der ganzen
Zeit war ich auf dem Eisengestell am Kopfende des Bettes gesessen - schon recht,
Alter, wir werden uns nicht wieder für zwei Stunden vor einen dämlichen
Kippspiegel setzen und den heiligen Tag mit Nichtstun verplempern!
Seltsam: sowie ich mich in die Küche schleiche und das Licht andrehe, macht
es dibidibidip! auf winzigen Klauen - und nichts rührt sich mehr! Ein scheuer
Gast ist bei mir zu Besuch.
Nun lass mich schauen. Woher kam dieses
dibidibidip-Getrippel? Ich glaube unten vom Abguss her. Von meinen drei
Küchenschränken?
Klink? - nichts, bäng. Klink? - nichts, bäng. Klink? -
nichts, bäng. Doch nicht von meinen Küchenschränken.
Moment: der mittlere
Schrank! Klink? - Nanu, mein Mehlsack! Gestern füllte ich das Mehl in einen
neuen Sack um - und nun rinnt dieser wieder? Hier: aus einem grossen Loch! Und
direkt darunter liegt das abgenagte Sackpapier - als winzige Fetzen, halb
verdeckt von einem Rinnsal feinen Mehlstaubs!
Soso, nach meinem Mehl also
gelüstet's meinem Gast! Gönn ich's ihm - oder neid ich's ihm? Das ist hier die
Frage!
Wer bist du überhaupt, du mein ge-dibidibidip-ter Freund? Bist du
vielleicht - ein Mäuschen, hein? Ein vorwitziges, naschhaftes Mäuschen? Warte,
dir will ich!
Bis morgen gebe ich dir eine Gnadenfrist - an einem Sonntag
entscheiden wir nicht über Sein oder Nichtsein. Sonntags haben wir Ruhetag.
Nach all dieser unnützen Meditation muss ich erst mal draussen frische Luft
schnappen gehen.
Ha! Meditation. Meditation hoch den Hintern, ja, und die
gespiegelte Wurzel davon, über Hure, mal Firn!
Draussen
Über die Funktion des Frühlings in Australien bin ich mir noch nie
klargeworden. Da herrschen doch heute schon Temperaturen um die fünfundzwanzig
Grad - soll das noch Frühling sein?
Dem Frühling traue ich ohnehin nicht. Er
schleicht sich so verstohlen daher, als sei er seiner Sache selbst nicht sicher,
und beginnt in aller Heimlichkeit, unterirdisch zu agieren und zu spriessen,
sich unkontrolliert zu vermehren - und eh man sich's versieht ist er da und
allgegenwärtig - ich werde nicht gern überrumpelt!
Mut hat er, das muss man
ihm lassen: ein so gigantisches Unternehmen zu beginnen, dessen Ausgang doch
eher ungewiss ist - und dann das Ganze kommentarlos, als Programm zu
hinterlassen, als Bürde, die nunmehr von andern weiterzuschleppen, zu
entwickeln, zu vollenden sei - : das grenzt an Übermut.
Ich hasse Frühling.
Nein, ich fürchte ihn. Ich misstraue ihm. Er macht mich nervös, rastlos. Ich
möchte weg, fort, auf Reisen - nach Südostasien - aber nicht heim; nach Honolulu
- Kukaburu - ins Kuckucksland: dort, wo der Pfeffer wächst, wo es etwas zu
lachen gibt - und weiter - in den Sommer, Herbst, Winter...
Wenn ich meine
Reise wie geplant auf fünf Monate ausdehne, komme ich genau Ende März nach
Europa: Ende Winter! Und dann beginnt wieder ein Frühling! Dann kommt die
Frühlingsputzerei - in Europa wird geputzt im Frühling: da wird alter Mist
weggeworfen, Staub geklopft, morsche Winkel geschrubbert...
In Australien
wird nicht geputzt, jedenfalls nicht speziell im Frühling. Hier spriesst's das
ganze Jahr über, und der Frühling wird zum Sommer, bevor es richtig Frühling
ist. Überhaupt wird hier die Idee des Frühlings durch die Phantasie ersetzt.
Ich werde über den Frühling phantasieren. Ich werde mir vorstellen, wie das
junge Blut lauter rauscht, wie die Gefühle über die Ufer treten, wie sich der
Körper reckt und streckt, das Leben neu beginnt - ich werde es mir vorstellen.
Ich werde mir vorstellen, wie das Ganze einen Anfang hat. Ich brauche einen
Anfang, einen Ursprung: eine Entwicklung, aus der sich eine Geschichte machen
lässt. Irgendwie lässt sich dann alles zu einem Werk zusammenschnüren, aus dem
man einen Sinn ersieht.
Eines ist klar: ich brauche diese Geschichte. Ich
brauche Vergangenheit. Eine Zukunft ohne die entsprechende Rückendeckung der
Vergangenheit ist sinnlos, das muss man gar nicht erst anpacken. Vielleicht tat
ich Martin da unrecht.
Ich muss mir zu diesem Thema noch etwas einfallen
lassen. Das Problem wird nicht einfach zu lösen sein.
Wieder daheim vor der Schreibmaschine
Bis ich nur wieder meine Gedanken sortiert habe! Weiss nun, worüber ich
wahrscheinlich im Spiegel sinnierte: über Eric, der mich, begleitet von Frau und
Kind, kurz nach Mittag besuchte: über die mehr als drei Stunden, die er hier
verbrachte: über seine weltanschaulichen Ansichten, die er verzapfte - während
seine Frau Kaffee schlürfte und das Kind mit meiner Perlenkette spielte.
Er
sei Pantheist, sagte er und kam sich dabei selbst wie ein kleiner Herrgott vor.
"Gott ist überall!" verkündete er und warf sich demonstrativ in die Brust - und
ich schaute hin auf seine Hühnerbrust und sah nichts gottähnliches daran.
Ein lustiger Bursche, dieser Eric. Er beweist Gott, indem er feststellt,
dass ich ihn nicht widerlegen könne - sehr logisch! Und da er sich das Wirken
der Natur nicht erklären kann, stülpt er ihr kurzerhand einen pantheistischen
Modehut über!
Und dann sei er auch Humanist! Er glaube daran, dass sich die
Menschen gegenseitig helfen - inter pares divinos, gleichsam; als Nebenleistung
solch frommen Lebens, so schloss er, löse sich das Problem der
Umweltverschmutzung von alleine.
Sehr fortschrittlich und speditiv seine
Ansichten, musste ich zugestehen. Er zumindest (er ist Geologe von Beruf) geht
die Probleme von der praktischen Seite her an. Das bemerkte ich früher schon und
zwar spätestens dann, als er mir aus einem nordaustralischen Hügel einen
Briefbeschwerer bohrte (und diesen noch extra polierte). Wie könnte ich ihm da
übelnehmen, dass er an meinem Brahms Violinkonzert keinen Gefallen fand?
"Dieses Gefiedel lehrt mich sowieso nichts," meinte er, er ziehe etwas
Volkstümliches vor. Damit konnte ich leider nicht dienen.
Man sollte sich
Bekannte wie Hügel zurechtschleifen können. Diesen Eric zum Beispiel finde ich
ganz irritierend in seiner ungeschliffenen Form. Und seine hochgesteckte
Götterherrlichkeit erst recht, wenn er es als seine grösste Herausforderung
betrachtet, den menschlichen Intellekt über die tierischen Triebe zu erheben!
Schrecklich abgegriffen die Idee - und natürlich eine pantheistische Fallgrube.
"Ich habe ein Verlangen nach einer besseren Welt!" erklärte er feierlich -
und ein Tier sei bekanntlich nicht an Fortschritt interessiert: deshalb!
"Ich bin so ziemlich zufrieden mit der Welt wie sie ist," erwiderte ich
trotzig.
"Willst du damit sagen, du strebst nach nichts?!"
"Genau!"
"Du meinst, du bist kein Intellektueller?!"
"Vorwiegend ein Tier!"
"Dann können wir ebensogut zurück ins Mittelalter gehen!"
"Gehen wir -
ich habe nichts dagegen!"
Ganz und gar widersprüchlich, die Person! Widerlich seine ranzigen Sprüche,
halbherzig und unausgereift sein Gespinst!
Oh, wie ich sie verachte, die
Heuchler, dieses faule Gewächs! Und wie ich sie beneide, die selbstsicheren Tore
- die Rosen, die sich ihrer Dornen schämen!
Ja, darüber hatte ich wohl meditiert. Ich möchte so sein wie sie: hohle
Gerippe, die sich mit beliebigem Stroh ausfüllen lassen.
Ich fülle meine
Hohlheit mit Alkohol ab. Im Alkohol finde ich meine Erkenntnis - oder fand sie
zumindest früher.
Und die Erkenntnis lauerte auf ein Zeichen von mir.
Oh, sie konnte warten, sie hatte Zeit! Sie umwarb mich, sie putzte sich auf,
machte sich rar - dürstete mich aus, unendlich langsam, spöttisch und grausam -
- und dann kam sie: Pfeil um Pfeil!
Ich kriege es langsam satt, jeden Tag vor dieser blöden Schreibmaschine zu
sitzen und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich sonst noch schreiben
könnte. Meine Finger haben sich bereits erstaunlich gut an die Tasten gewöhnt,
und so erübrigt es sich eigentlich, weiter zu üben.
Falls ich jedoch länger
hier sitzen bleibe, werde ich womöglich noch sentimental.
Sentimentalität ist die Mutter der Poesie, die Grossmutter der Symbolik: die
hurende Geschlechtsmutter der Kunst.
Ich liebe 'huren': es klingt gut. Es
sieht auch gut aus und liest sich nicht schlecht.
Wie mein 'Pfeil um Pfeil'
dort oben. Das war auch gut. Ich sollte eine Ode an meine Pfeile schreiben.
etwas später
Versuchte es tatsächlich: es war ein Reinfall! Das Projekt fiel durch infolge
zu
vieler Symbole.
Ich hasse Symbole: sie nehmen es zu genau. Und im
übrigen stimmt es nicht, dass ich um Gnade bat: ich suchte lediglich einen Reim
auf blutiges Bade.
Aber es stimmt natürlich, dass ich keine richtige Wahl
mehr habe. Nur scheint mir, dass ich früher noch über mehr Spielraum verfügte.
Damals war eben meine Schale noch intakt.
Verwünschte Henne! Ich kenne sie
nicht einmal!? An wem kann ich mich rächen? Mit welchem Recht zwingt sie mich
zum Leben und zum Sterben?
Was soll's! Ein ungeborenes Küken erhebt keine
Ansprüche. Es hat den erhaltenen Auftrag auszuführen und keine unnötigen Fragen
zu stellen.
So wie ich. Statt in meiner verstaubten Weisheitstruhe zu
wühlen, würde ich besser daran tun, an einem konkreten, messbaren Projekt zu
arbeiten, das mich weiterbringt und mein Problem ein für allemal löst.
Ich
muss an dieser James-Story arbeiten, die Idee erscheint mir nützlich.
Ich
bin ein wenig wie eine werdende Mutter, die Angst davor hat, ihr Kind zu
gebären.
Oh, Mutter, spreiz deine Beine, press deine Frucht hervor!
Die
Henne! Sie glaubt wohl plötzlich goldene Eier zu legen!
Mut, alte Henne!
Zeig uns dein goldenes Ei! Es ist nicht dein erstes - und es wird nicht dein
letztes sein!
Montagmorgen, auf der Post
Ein Telegramm an Hassan! Und keine Post für mich! Ich zahle Postfachgebühren,
damit sich dieser Hund seine Post hierherschicken lässt! Nachdem ich ihn aus der
Wohnung geworfen habe, muss ich ihn nun offenbar auch noch aus meinem Postfach
werfen! Warte nur, Bürschchen!
Das Telegramm kommt aus Singapur.
Wahrscheinlich von seinem Vater. Was wohl der Alte darin schreibt?
"Komm sofort heim!" oder: "Kein Geld mehr!" Ich möchte wissen, was drin steht!
Soll ich es öffnen? Schliesslich lag es in meinem Postfach.
Ich könnte
es ja auch wegwerfen. Oder zurückschicken: "Adressat unbekannt!"
Oder ihm
das Telegramm bringen. Diese Möglichkeit besteht durchaus.
Zuerst muss ich
auf die Bank, ich brauche Geld. Und dann muss ich meinen Alkoholvorrat
aufstocken. Dann brauche ich frische Eier...
Ach ja, das Rattengift! Das
Rattengift darf ich nicht vergessen.
Nachmittags
Klopf-klopf! Keine Antwort. Ist der Hund ausgegangen? Klopf-klopf-klopf! Ich
kann das Telegramm auch einfach unter der Tür durchschieben.
Bäng, bäng!
Aha, etwas rührt sich. Ich versuche die Klinke - verschlossen.
"Wer ist
da?" Wie ein verängstigtes Kind ruft er. Wie ein verhätscheltes Schosshündchen.
"Renz!"
Vielleicht öffnet er nicht einmal? Vielleicht glaubt er, ich
komme, um ihn zu verprügeln?
"Moment!"
Hätte das Telegramm doch lesen
sollen. Wer weiss: vielleicht steht etwas Lustiges darin?
Der Schlüssel
dreht sich, die Tür geht auf. Da steht er, halbnackt im verdunkelten Zimmer -
und rechts hinter ihm liegt sowas wie Francis auf dem Boden.
"Ah, du
bist's?" sagt er verschlafen.
"Verblüffend, nicht?"
Er mustert mich
misstrauisch - dann weicht er zurück. "Bitte, komm rein!"
Ich trete ein. Das
Zimmer stinkt nach Rauch und zu vielen Menschen. Am Boden simuliert Francis
Schlaf auf zwei Wolldecken. Kleidungsstücke liegen rum.
"Ihr schlaft
ziemlich lang, wie ich sehe."
"Wir kamen spät heim gestern." Er geht zum
Studiertisch und greift nach einem Paket Zigaretten. Er trägt nur einen knappen,
schwarzen Slip.
"Und Francis hat sich hier fest niedergelassen?"
"Mehr
oder weniger, ja." Er lacht verlegen und sucht nach Zündhölzern. "Zigarette?"
"Hab selber welche." Ich schaue mich in dem stinkigen Raum um: überall
Unordnung - ein Filzhut, Halsketten, Kostüme. Ich weiss nichts zu sagen.
Hassan zündet sich seine Zigarette an und wirft die Zündholzschachtel
achtlos auf den Tisch zurück. Sein langes, schwarzes Haar, das er früher sorgsam
zu bürsten pflegte, steht ihm schlampig, in verfilzten Strähnen vom Kopf ab.
"Du hast dich noch nicht entschieden, wann du gehst?" fragt er. Dazu zieht
er ein paarmal kurz an der Zigarette, den Rauch gleich wieder ausstossend.
"Vielleicht Ende Jahr."
Er weist auf das ungemachte Bett. "Willst du
dich setzen?"
"Ich bleibe nicht lange. Ich bin gekommen, um dir dieses
Telegramm zu bringen. Es lag in meinem Postfach."
"Oh, danke." Er nimmt es
entgegen, ohne draufzuschauen. "Wie läuft's bei dir?"
"Soso." Ich muss an
seinen kürzlichen Spruch denken: Was ich ihm zu bieten hätte? "Und hier?"
"Oh, es ist immer was los." Er hat sich langsam auf dem Bett niedergelassen.
Nun studiert er eingehend den Absender auf dem Telegramm. Dann blickt er wieder
hoch und wird übermütig. "In letzter Zeit war ich konstant high. Ein Mensch gab
uns neulich eine Menge Heu auf einer Party..."
"Ach ja, einfach so: gratis,
nehme ich an."
"Ja."
Francis wälzt sich auf seinem Lager.
"Und alles
aufgebraucht?"
"Ja, leider. Es reichte nur für ein paar Joints."
Ich
muss lachen. "Ich verstehe. Sag, kannst du mir einen Teil deiner Schulden
abzahlen?"
"Im Moment habe ich leider gar kein Geld." Er lehnt sich nach
hinten - dann erinnert er sich an seinen knappen Slip und kommt wieder nach
vorn. "Ich habe seit mehr als drei Monaten kein Monatsgeld mehr erhalten."
"Warum nicht?"
"Keine Ahnung. Ich krieg auch keine Post mehr von
zuhause."
"Glaubst du, dies hier könnte die Antwort sein?" Ich zeige auf das
Telegramm, das er noch immer ungeöffnet in der Hand hält.
Zweifelnd
betrachtet er es, dann meint er: "Ich weiss nicht."
"Dein Alter weiss, dass
du nicht mehr studierst?"
"Ich nehme es an."
"Sind deine
College-Gebühren bezahlt?"
"Ich glaube kaum."
"Wie willst du dann deine
Schulden zurückzahlen?"
"Ich kann arbeiten." Ein schüchterner Vorschlag. Ich
kann ein Schmunzeln kaum unterdrücken.
"Zum Beispiel in der
Weizenernte," fügt er hinzu, "die nehmen immer Studenten."
"Dafür ist die
Anmeldefrist bereits abgelaufen."
"Ach ja?" Er spielt den
Niedergeschlagenen. "Wann denn?"
"Ende Trimesterferien."
"Das wusste ich
nicht."
Francis schlägt die Augen auf und schaut zu mir hoch. Meine Stiefel,
die ich speziell für den Anlass angezogen habe, sind keine zehn Zentimeter von
seinem Kopf entfernt.
"Wann reist du denn ab?" fragt Hassan.
"Sobald ich
das Geld habe."
"Ich meine, ich könnte versuchen, einen Kredit aufzunehmen."
"Den Rat geb ich dir."
Francis richtet sich auf seinem Wolldeckenlager
auf. Er schaut uns beide wie fassungslos an, dann sagt er mit schlafbelegter
Stimme, zu Hassan gewandt: "Du solltest dich vielleicht ans Auswärtige Amt
wenden. Die kümmern sich doch für gewöhnlich um Überseestudenten."
Hassan
beantwortet den absurden Vorschlag mit einem vagen 'Ja' und spielt wieder den
niedergeschlagenen Ich-weiss-ich-bin-ein-Tunichtgut.
Das wär's dann wohl!
Das Geld spielt schon eh keine Rolle. Ich sag noch ein überflüssiges 'Adieu' -
dem ein noch überflüssigeres 'Ja, auf Wiedersehen'
aus muffiger Luft folgt -
dabei bin ich schon draussen, an der frischen Luft - Luft, Luft! tief einatmen,
das ist der Frühling - Freiheit - tief einatmen!
Ha, welche Brut! Über vier
Monate hatte er sich bei mir eingenistet und nicht einmal seinen Anteil an der
Miete bezahlt - Gott weiss, warum ich ihn überhaupt einliess. Vielleicht hatte
mich seine fröhliche Liederlichkeit fasziniert.
Jetzt nimmt er Rauschgift.
Nur geht's in dieser Richtung nicht weiter. Da gerät man rasch auf die
Schattenseite des Geschäfts, ins dunkle Gestrüpp von Schiebern und Betrügern -
nicht wie hier, wo hier alles klar ist und hell - oh! der Himmel, die
warme Sonne, das Vogelgezwitscher - und das Gras, das zu meinen Füssen spriesst
- da kann ich mich umschauen und sorglos einhergehen und denken, woran ich will
- sogar an meine Mäuse daheim, oder an den Portwein, den ich eingekauft habe...
Wie es meinen Mäusen wohl geht? Ich hoffe, sie sind hungrig. Streute ihnen
eine Menge Futter heute Mittag, gutes, nahrhaftes Futter. Dafür habe ich im
Laden vier Dollar fünfundsechzig bezahlt.
Wirklich tolles Wetter heute! Soll
ich einen kleinen Spaziergang unternehmen? Oder soll ich direkt heimgehen und
den Yalumba-Port probieren? Briefe schreiben sollte ich auch noch irgendwann...
Vielleicht hätte ich das Telegramm doch besser gelesen! Jetzt weiss ich
nicht einmal, was sich zwischen Vater und Sohn tut!
"Du bist die Schande der
Familie! Böser Bub! All unsere Hoffnungen sind zunichte! Deine Mutter schämt
sich dermassen! Schreiend rennt sie auf die Strasse und rauft sich das Haar! Du
hast uns betrogen! Du hast dich von uns losgesagt! Du gehörst nicht mehr zu
uns!"
Ja, so etwa wird es stehen: Böser, böser Bub!
Daheim
Meine Mäuse begehen den Fehler, dass sie zu wählerisch sind. Statt sich an
ihre einfache Mehlkost zu halten, finden sie es angebracht, ihr Menü mit
zusätzlichen Leckerbissen aufzuwerten. Fresst nur, Mäuse! Wohl bekomm's!
Fein säuberlich habe ich die Körner auf einer alten Zeitung verteilt und
diese zwischen das Mauseloch und den Mehlsack gelegt - sie können es gar nicht
verfehlen.
Und es scheint ihnen zu munden. Wie ich mich vorhin kurz
überzeugte, haben sie sich meinen Körnerberg schon fast zur Hälfte einverleibt.
Zur Belohnung und weiteren Aufmunterung setzte ich ihnen nochmals eine großzügig
bemessene Ration aus; es reut mich nicht.
Die Alte (ich sage: 'die Alte';
dabei weiss ich nicht einmal, ob es dieselbe ist wie jene von heute Morgen, die
ich mit ihren beiden Jungs beim Naschen überraschte: sie sehen sich alle so
ähnlich!) - die Alte, sage ich, wollte gar nicht so richtig davonhuschen, als
ich die Schranktür öffnete. Sie hüpfte unbeholfen auf das Loch zu unter der
Abwasserröhre und schaute sich nach jedem Hupf nach mir um. Entweder war sie zu
faul oder zu habgierig - oder das Gift tat bereits seine Wirkung. Vielleicht war
ich ihr auch einfach sympathisch: ich bin eine vertrauenerweckende Person.
Wahrscheinlich war es das Gift. Es muss eine lähmende Wirkung besitzen.
Zuerst verlangsamen sich die Körperbewegungen, dann die Gehirnaktivitäten, und
schliesslich kommt das ganze System zum Erliegen.
So muss das sein:
progressiv und systematisch.
Dienstag, 15. September
Bin ich ein Mann? Kann ich Respekt erwarten, wenn ich mich selbst verrate?
Mit welchem Recht liess ich gestern den Hund laufen?
Feige Memme! Zog sich
die Stiefel an - nur um schneller zu rennen!
Habe ich denn nicht die
Pflicht, als Mann, als Bürger und Mitmensch, die Schulden einzutreiben - oder
den Kerl zumindest spitalreif zu schlagen für den Betrag, den er mir schuldet?
Eigene Interessen dürfen da keine Rolle spielen.
Das Schlimme ist: ich
empfinde nicht einmal Scham. Nur etwas Traurigkeit - weil es nicht anders ging.
Und von der Traurigkeit leben wir ja schliesslich, durch sie beziehen wir die
Kraft - gegen sie zu kämpfen opfern wir das Leben.
Und doch: welch
abscheulicher Verrat! Noch in der Verleugnung die Farce; als Rache aufgezogen,
in Stiefeln ausstaffiert - zuletzt doch nur wieder die Bestätigung der
urbekannten Impotenz!
Verdammtes Mäusepack! Jetzt bemächtigen sie sich sogar meines
Wohnschlafzimmers! Eben erhaschte ich den flüchtigen Schatten eines Nagers, als
ich kurz von der Schreibmaschine aufblickte. Hinter dem Grammophon verschwand
er.
Schön, gehen wir auf Mäusejagd! Jetzt wird's lustig!
Trari-trara! -
nein, das ist die Post. Ich brauche einen Besen, einen Hexenbesen. Voilà! Und
dann die Küchentür zu, um dem Feind den Rückzug abzuschneiden - : so, es kann
losgehen!
Wumpedibum, der Stiel ist krumm, die Hexe mag dich - ZACK!
Hoppla, meine Schallplatten! Aber der Feind ist erspäht, er ist zur
Küchentür geflüchtet - dort kommst du nicht durch, Freundchen! - ZACK! - unter
den Kleiderschrank - SCHWUPS! - schon lange nicht mehr gefegt - SCHWUPS!
Mäuse haben schwache Lungen. Schon hält mein Freund das Tempo nicht mehr
durch. Unser sportliches Turnier beschränkt sich, nach ein paar kurzen Ausfällen
unter das Sofa, nurmehr auf die Laufbahn zwischen Küchentür und Kleiderschrank -
und da bin ich mit dem Besen eindeutig im Vorteil - : SCHWUPS!
Lausige
Sportler, Mäuse. Der arme Kerl da ist bereits dermassen ausser Atem, dass er
kaum mehr rennen mag.
Du hast 'ne schwache Lunge, Freundchen! Das kommt vom
Leben in den Löchern! Du solltest mehr an die frische Luft!
Niedlich, der
kleine Kerl, wie er dort pustend in der Ecke steht und die Pfötchen schützend
vor die pochende Brust hält. Muss einer der Söhne sein - ZACK! - ah, Kollaps.
Ah, nein, da! Keine Schweinereien, bitte! Der Schmutzfink hat Blut ergossen
- pfui Teufel!
Hein, dich haben wir erwischt, Bengel! Kein Mehl mehr für
dich, was? - Sieht ziemlich unschuldig aus, wie er da mit seinem rosa
Schwänzchen ausgestreckt am Boden liegt. Lass dich begucken, Wicht!
Federleicht baumelt er an seinem Schwanz. Seine Zähne ähneln denen von
Martin - nur sind die seinen hier blutverschmiert, während jene von Martin
nikotinvergilbt waren. Soll ich ihm mit seinem eigenen Blut ein rotes Kreuz aufs
weisse Fell malen? Oder wäre das zu makaber?
Hörst du, Bengel? Ich bin
fertig mit dir! Und jetzt wandern wir ab in den Kehrichteimer - Moksha sei mit
dir!
Verdammte Schweinerei, das! Dabei sollte ich Briefe schreiben!
Es war ein Fehler, Hassan zu besuchen! Der Kerl beschäftigt mich zu sehr! Ich
hätte das Telegramm zerreissen und wegwerfen sollen!
Ein trübes Kapitel:
meine Schuld! Wie jenes mit Fanny! Und mit Sarah! Und James! Und vorher und
überhaupt alles - alles meine Schuld!
Man sollte die Vergangenheit
auswischen können. Auswischen und auslöschen und von vorne beginnen. Zumindest
der trüberen Kapitel sollte man sich entledigen dürfen. In einem Tagebuch kann
man das: da kann man beliebige Kapitel auslassen.
Meine Mäuse lasse ich
nicht aus. Aus denen mache ich Literatur. Etwas prosaisch zwar, ihr Eingehen in
die Literatur - aber so bin ich sie nun los.
Und mit Hassan werde ich ebenso
verfahren. Ich werde ihn packen und auf eine Feder aufspiessen - und dann tauche
ich ihn in ein Tintenfass, den schwarzen Teufel, und schmiere ihn auf Blatt und
Bogen - und dann mag er den Rest des Lebens zwischen Buchdeckeln geklemmt
verzappeln!
Erst dann bin ich frei, erst dann beginnt das Leben.
Ein
Datum muss ich fixieren. Ich muss mich festlegen auf den Zeitpunkt meines
Abgangs.
So, diesmal klappte es, alles steht wieder zum besten! Weiss Gott, was
kürzlich los war?!
"Prost!"
"Prosit!" Wir sitzen im Weinhaus.
Ich
schrieb gerade Briefe - da kam sie, direkt von der Uni, ungeachtet ihrer
vormaligen Drohung, nie mehr wiederzukommen. Und dann tratschte sie über die
Uni, als ob mich das noch interessierte - erzählte spöttisch, Nwafo hätte sich
nach mir erkundigt, so als müsste sie über mich Bescheid wissen - und ein
anderer habe mit Ahmed über uns geplaudert, so als ob ihn das etwas anginge -
"Hast du zu Mittag gegessen?"
"Nein, ich sagte dir doch, ich kam direkt
von der letzten Vorlesung."
"Hier kriegt man schon was zu essen."
"Ich
hab aber eher Lust auf was anderes." Augenzwinkern ihrerseits.
"Ich brauche
einen Brandy."
"Du brauchst was Starkes, hein?"
"Natürlich!"
Augenzwinkern meinerseits.
Ich war im Bademantel, als sie kam - und sie
setzte sich auf meinen Schoss und begann, mit meinen Brusthaaren zu spielen und
daran zu zupfen - und ich sagte, ich würde ihr eine Tasse Kaffee machen, aber
sie wollte nicht und verstellte eine Schachfigur auf dem Spielbrett, obschon ich
Nwafo gestern schon schachmatt gesetzt hatte - und ich machte ebenfalls einen
Zug, und dann sie wieder - und als sie merkte, dass sie noch immer schachmatt
war, begann sie an meinen Oberschenkelhaaren zu zupfen - und so beschloss ich:
also dann!
"Fühlst du dich in Ordnung?"
"Sehr. Der Brandy hilft."
"Keine trüben Gedanken diesmal?"
"Gar nicht. Höchstens wegen Ahmed."
"Vergiss ihn!"
Sie warnte mich noch, als ich in der Küche die Tür nach
aussen verriegelte. Aber heute war es mir egal. Und dann schmusten und
knutschten wir auf dem Sofa und dann auf dem Bett - und sie sagte, sie müsse nun
gehen, aber ich hörte gar nicht erst hin sondern begann sie auszuziehen - und
nach dem ersten Mal versuchte ich ihr zu erklären, dass das Bewusstsein über die
Theatralik des eigenen Handelns einen manchmal völlig lähme - aber sie wollte
überhaupt nichts darüber wissen sondern wollte nur immer wieder -
"Hier ist
es ganz nett."
"Ja."
"Kommst du noch immer jeden Tag hierher?"
"So
ziemlich."
"Und verführst alle Serviertöchter, was?"
Zuletzt lagen wir
erschöpft nebeneinander auf dem Bett. Durch das Fenster schien eine milde
Frühlingssonne. Sie tauchte unsere Körper in ihre goldenen Strahlen, und wir
genossen es, nebeneinander auf dem sonnendurchtränkten Bett zu liegen und uns
aneinander zu schmiegen und die Hitze des anderen Körpers zu fühlen.
"Bereit
für eine zweite Runde?"
"Wann immer du willst!"
Ich brachte sie an einen
der hinteren Bartische - man fühlt sich vertrauter hier hinten. Rose warf uns
einen argwöhnischen Blick zu, als wir das Weinhaus betraten - wahrscheinlich ist
sie eifersüchtig. Ich werde sie mir mal vorknöpfen; ich glaube, sie erwartet das
von mir.
"Gehen wir?"
"Hmhm."
Leben ist eine Frage der Leistung, der sportlichen Ausdauer. Da spiele ich
immer noch mit.
Muss unbedingt darauf achten, sportlich fit zu bleiben.
Mittwoch, 16. September
Ismael fragt nach dem Zimmer. Die Schwester zeigt es uns.
Chapong liegt
auf dem hintersten Bett. Er schläft. Dabei ist er voll angekleidet.
"Sollen
wir ihn wecken?"
Die Frage selbst weckt ihn. Er dreht sich um und schaut uns
aus wässrigen Augen an.
"Oh, hallo!" Er grinst schwach zu uns rüber. "Woher
wisst ihr, dass ich hier bin?"
"Reiner Zufall." Wir treten näher.
"Eigentlich wollten wir jemand anderes besuchen - da sahen wir dich hier auf dem
Bett liegen."
"Blödsinn!" Chapong lacht und richtet sich auf.
Man sieht
es ihm an, dass er krank ist.
"Bitte setzt euch!" fordert er uns auf.
Ismael setzt sich zu ihm aufs Bett. Ich gehe ans Bettende.
"So, hier
hältst du dich also versteckt, was?"
"Ja."
"Seit wann denn?"
"Seit
einer Woche etwa." Er versucht sich zu erinnern. "Ich kam an einem - Mittwoch."
"Hübsch hast du es hier. Bist du allein?"
"Im ersten Bett ist noch
jemand. Ich weiss nicht, wo er sich gerade aufhält."
"Ein Australier?"
"Nein, ein Asiate. Er studiert am WAIT."
"Kommst du gut aus mit ihm?"
"Ja."
Chapong offeriert uns Orangen. Er weiss nicht, wie lange er noch
hierbleiben wird. Er kam auf Anraten seines siamesischen Freundes, und Michael
brachte ihn im Auto her. Er will uns nicht sagen, was los war mit ihm. Wir
wissen nur, dass er sich deprimiert fühlte und dass er nahe an einem
Nervenzusammenbruch stand. Seine Behandlung besteht offenbar in der
medikamentösen körperlichen Erschöpfung - mit dem Ziel, ihn anschliessend
mittels kleiner Häppchen Selbstsicherheit wieder aufzupäppeln. Allem Anschein
nach befindet er sich immer noch in der Erschöpfungsphase: er sieht alles andere
als entspannt aus - eher verängstigt. Seine Bewegungen sind ruckartig und
unkontrolliert, seine Gedanken sprunghaft.
"Was treibst du denn den ganzen
Tag?"
"Nichts." Er lacht verlegen. "Schlafen."
"Geben sie dir nichts zu
tun?"
"Manchmal spiele ich mit den Kindern."
"Die hier ebenfalls in
Behandlung sind?"
"Ja."
Er will uns eine Zeichnung zeigen, die er
gestern angefertigt hat. Er erhebt sich von seinem Bett und fährt sich mit der
Hand durchs Haar, ohne dort allerdings Ordnung zu schaffen. Sein Gesicht sieht
wächsern aus.
Wir folgen ihm in den Gesellschaftsraum. An der Wand hängen
Kinderzeichnungen, die alle dasselbe Sujet darstellen: Wasser und Himmel und
mittendrin ein Schiff.
Chapong will, dass wir seine Zeichnung erraten. Ich
tippe zuerst auf eine falsche. Dann tippt Ismael auf zwei weitere falsche.
Chapong verrät uns die richtige: ein abstrakter Dampfer in Braun, in einem Meer
in Blau, unter grünen Wolken - mit einer riesigen gelben Sonne darüber.
"Weshalb hast du die Wolken grün gemalt?"
"Ich dachte, es mache sich
besser - wegen des blauen Meeres." Er lächelt geheimnisvoll und weist mit beiden
Händen auf bestimmte Stellen in seiner Zeichnung, um Kontraste anzudeuten. Wir
wissen nicht, ob er nur Schabernack treibt und uns zum Narren hält.
Er
bittet Ismael um ein Pingpongspiel. Der Tisch steht in einem anliegenden Zimmer.
Ismael bemüht sich, den Ball möglichst sanft und geradlinig über das Netz zu
befördern, aber Chapong erwischt ihn nicht. Die beiden spielen ein paar Minuten,
ohne dass sich das Spiel verbessert. Entweder erwischt Chapong den Ball nicht,
oder er schlägt ihn ziellos irgendwohin. Ich habe mit ihm schon interessante
Partien gespielt.
"Darfst du eigentlich das Spital verlassen?"
"Ja, aber
nur zwischen den Mahlzeiten. Und um sechs muss ich im Zimmer sein. Wenn ich
länger ausbleiben will, muss ich um Erlaubnis bitten."
"Hast du Lust, etwas
auszugehen?"
"Ja, schon. Wohin?"
"Wir können auf eine Spritztour gehen
und dann zu mir heim."
"Schön. Aber um sechs muss ich wieder hier sein."
"Keine Sorge, wir bringen dich rechtzeitig zurück."
Chapong geht sich
das Haar kämmen - mit einem Kamm diesmal. Er sieht schrecklich ungesund aus.
Etwas frische Luft und körperliche Aktivität werden ihm guttun.
Draussen
herrscht Frühling: klarer Himmel, frische, fruchtbare Luft. Wir steigen ins
Auto.
Ismael hatte durch Michael erfahren, wo sich Chapong aufhält. Es
sollte ein Geheimnis bleiben - aber schliesslich zählen wir zu seinen besten
Freunden, sodass sich Michael nicht dafür hielt, uns anzulügen.
Wir fahren
zum Kings-Park hinauf, wo wir vor dem Eingang zum Botanischen Garten parken. Von
hier aus sieht man auf den tiefblauen, kristallklaren See hinunter. Er sieht aus
wie ein hymnisches Abbild des Himmels über ihm - wie ein Symbol des immensen
Äthers.
Ismael geht mit Chapong voraus, ich mit einer Zigarette hinterher.
Es ist der erste Tag nach dem langen Regen, da ich meine Sonnenbrille aufsetze.
Durch die Sonnenbrille betrachtet sieht die Welt viel farbiger aus: der Himmel
ist blauer, die Bäume grüner - Gelb und Rot leuchten intensiver - sogar Chapongs
wächsernes Gesicht sieht gesünder aus.
Überall blüht es: leuchtende, üppig
blühende Blumen in der Sonne des Wildblumenstaates Australiens, farbiger
betrachtet durch eine dunkle Sonnenbrille: 'Hibiscus', in mediterraner Blüte.
'Agave variagata', mit Dornen. Ich bin froh um meine Sonnenbrille.
Krankheit
ist eine Abwehrreaktion des Körpers gegen einen Krankheitserreger. Nach
durchgestandener Krankheit ist der Krankheitserreger annihiliert - das heisst:
Krankheit ist gleich minus Krankheitserreger; oder: Krankheit plus
Krankheitserreger gleich Null. Null gleich gesund.
Ich sollte einen Arzt
konsultieren. Leide seit gestern unter Durchfall.
Bin doch etwas: ein
Durchfall.
Chapong ist auch ein Durchfall. Oder vielmehr ein Abgang. Er hat
sich abgesetzt und einem ärztlichen Bulletin verschrieben. Seine Gegenwart
erbaut mich. An seiner Krankheit misst sich meine relative Gesundheit.
Totale Gesundheit besteht nur in einem Zustand der Immobilität: wenn sich
nichts abnützt - somit innerhalb einer minimalen Zeitspanne t.
Wenn sich t
gleich Null nähert, dann nähert sich relative Gesundheit gleich totale
Gesundheit. Da t abhängig von 1 über v, folgt: totale Gesundheit besteht nur bei
unendlich grosser Geschwindigkeit.
Ich werde auf Reisen gehen. Meinem
Durchfall zuliebe. Und ich werde möglichst rasch durch Südostasien reisen: v
abhängig s.
Wenn: v sich Unendlich nähert, dann gilt: s nähert sich
Unendlich, oder: Gesundheit herrscht, wenn man möglichst rasch eine möglichst
grosse Strecke zurücklegt - im Idealfall: wenn man gleichzeitig überall ist.
Ich liebe die philosophierende Mathematik: sie erschliesst neue Welten.
Chapong beklagt sich über Müdigkeit. Er ist es nicht mehr gewohnt, sich so
lange auf den Beinen zu halten. Wir gehen zum Auto zurück und fahren zu mir nach
Hause.
"Kaffee, Chapong?"
"Ja - das heisst, nein: der Arzt hat mir Kaffee
verboten."
"Schnaps? Sherry? Port? Rum?"
"Hast du Limonade?"
"Nein."
Ich schicke ihn in den Laden hinunter. Ismael stellt die Schachfiguren auf.
"Ich verreise definitiv am 12. November."
"Du hast dich entschieden?"
"Jawohl."
Als Chapong mit seiner Flasche Limonade zurückkommt, spielen
wir bereits. Er setzt sich zu uns. Sein Blick verrät Teilnahmslosigkeit.
"Man vermisst dich allgemein, Chapong. Weshalb hast du eigentlich deine
Freunde nicht wissen lassen, wo du dich aufhältst?
"Welche Freunde?"
"Mich und Ismael zum Beispiel. Weisst du, Chapong: du solltest dich nicht
dermassen gegen deine besten Freunde abkapseln. Schliesslich nehmen sie auch
Anteil an deinem Schicksal. Und immerhin wäre es auch weniger langweilig für
dich im Spital, wenn dich gelegentlich jemand besucht."
"Ich muss nur immer
mit Kindern spielen!"
"Siehst du?"
Ismael gewinnt das Spiel. Chapong
möchte, dass wir Michael besuchen: vielleicht lässt sich mit ihm ein Nachtessen
organisieren. Wir wollen gerade aufbrechen, da kommt der feiste Miung
reingeschneit.
Ich beschliesse, daheimzubleiben und Miung zu unterhalten.
Ismael und Chapong verabschieden sich.
"Kaffee, Miung?"
"Ja, gern. Sag,
hast du Neuigkeiten von Martin?"
"Nein. Das heisst, doch: er hat mir eine
Postkarte geschickt."
"So? Mir hat er keine geschickt, der Gauner!"
"Da
siehst du, mein lieber Miung, welcher von uns beiden höher im Kurs steht."
Miung lacht. Er ist ein gutmütiger Kerl. Ich finde es nett, dass er mich
trotz Martins Abreise noch besuchen kommt. Er studiert am WAIT - und so
unterhalten wir uns über sein Studium am WAIT - dann über Fussball und
Pferderennen - und über Gambling - und dann kommt Nwafo.
"Kaffee, Nwafo?"
"Ja, danke."
"Sag mal, was genau hast du gestern mit deiner Frage an
Fanny bezweckt, wie es mir gehe?"
"Puh, ist die aber misstrauisch!"
"Ja,
und du eher taktlos!"
Natürlich hege ich keinen Groll gegen ihn. Trotzdem
muss ich wenigstens auf etwas Verschwiegenheit bestehen, wenn ich ihn schon ins
Vertrauen ziehe.
"Ach, da kommt ja unser Freund Chapong wieder. War Michael
nicht zu Hause?"
"Doch, aber er hatte keine Zeit."
"Dann tatest du gut
daran, hierher zurückzukommen. Und was ist mit dem Nachtessen?"
"Wir gehen
um halb acht ins Pagoda."
"Gut. Vergiss nicht, dich im Spital abzumelden.
Sonst glauben die noch, du seist ihnen entlaufen."
Nwafo und ich spielen
Schach. Chapong und Miung schauen zu. Dazu trinken wir Kaffee; Chapong trinkt
Limonade. Wir hören Musik und unterhalten uns. Das ist es, was die Leute bei mir
suchen: Abwechslung und Unterhaltung.
Ein Uhr nachts
Mein Tagebuch beginnt mir über den Kopf zu wachsen. Tatsache ist: ich bin gar
nicht mehr in der Lage, in einem Tagebuch festzuhalten, was sich alles so
ereignet; ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was sich heute Abend noch alles
abspielte.
So, wie die Dinge liegen, war der ganze Abend für die Katze: seit
einer Stunde versuche ich vergeblich, die verschiedenen Gespräche und
Diskussionen zu rekonstruieren, die wir zuerst bei mir zu Hause, dann im
Weinhaus und anschliessend im Restaurant noch führten.
Ich hasse Lücken.
Ich sollte einen Sekretär anstellen. Ich brauche jemanden, der für mich
Distanz hält, der hinter meinem Stuhl steht und mitschreibt - der alles
festhält, was ich sage: meine scharfsinnigen Sprüche, meine Witze, die
Nebenbemerkungen, die Kommentare - die ganze Mimik, die Reaktionen, die
Stimmung.
Jetzt haben wir eine Situation, in der der ganze Abend praktisch
nicht stattgefunden hat. Und eine solche Situation haben wir nicht zum ersten
Mal.
Muss mir da über die Konsequenzen klar werden: Vergangenheit ist eine
Frage der Auswahl - und des guten Erinnerns.
Donnerstag, 17. September
Mit Ng in der Stadt. Will ihm den 'Adler' zeigen. Bin seit bald zwei Jahren
nicht mehr hier gewesen.
Hier hatte die Story mit James begonnen. Nun soll
das Hotel niedergerissen werden und einer Bank weichen.
Ob die dicke Mary
noch bedient? "Du hast den hungrigen Blick" pflegte sie zu sagen. Erst heute
weiss ich, was sie meinte - auch wenn ich es damals schon ahnte.
Alles ist
wie früher: der Taxistand, die marmorne Treppe, das Messinggeländer links und
rechts - nur der Portier fehlt. Ob es noch George ist, der livrierte Zuckerguss?
Dann die düstere Lobby: alles wie früher - nur nicht so prunkvoll, wie ich
es in Erinnerung hatte. Der rote Teppich am Boden, das massive Holz, das Messing
überall - die Schnitzereien, die Leuchter - alles aus einer anderen Zeit.
Wir gehen die drei Stufen zur Lounge hoch und setzen uns an der Fensterfront
an einen Zweiertisch.
"Was trinkst du?"
"Irgend etwas. Ein Bitter
Lemon."
"Nimm etwas Stärkeres. Whisky?"
"Du weisst, ich muss heute noch
studieren." Er grinst mich unsicher an.
Ng hat kürzlich Albert für Ranthir
zwei Kochtöpfe ausgeliehen, die er für sein Gemüse-Curry-Gericht brauchte. Bei
der Gelegenheit hat er gehört, dass bei mir noch was zu mieten wäre und hat sich
gleich heute Morgen die Wohnung angeschaut. Scheint interessiert zu sein.
Dort drüben hatte James an einem Tisch gesessen und Bier bestellt. Seltsam,
wie die Zeit vergeht. Heute fühle ich mich als Tourist.
"Glaubst du, er
taugt was?" frage ich Ng, der meinen soeben erstandenen Sprachkurs studiert.
"Der Kurs da? Ja, ich denke schon." Er schiebt sich mit dem rechten
Mittelfinger die Hornbrille zurecht. "Aber es gibt natürlich eine Reihe von
Wörtern, die im Malaysischen gar nicht existieren."
"Aber im Gespräch
würdest du einen Indonesier verstehen?"
"Ja, das meiste schon." Er schlägt
sein rechtes Bein über das andere. Ich stelle ihn mir vor, wie er an einem
breiten, mit viel Papierkram beladenen Pult sitzt, und wie er durch eine dicke
Hornbrille den strengen Blick auf ein eminent wichtiges Dokument richtet. Eine
klare Laufbahn ist hier vorgezeichnet.
Der Whisky kommt. "Neun Dollar
zwanzig!"
"Wer bedient in der Hausbar?"
"Bitte?"
"Arbeitet Mary noch
hier?"
"Welche Mary? Ich arbeite erst seit kurzem hier."
"Sie ist dick
und lacht schallend und arbeitet in der Hausbar."
"Ach die, ja."
"Aber
jetzt ist sie nicht hier?"
"Nein. Ich glaube, sie hat Zimmerstunde."
Ng
kommt aus Kuantan, und er erzählt mir darüber: Eine schnell wachsende Hafenstadt
an der Ostküste Malayas, mit viel Potential - vor allem im Hotelbau - liesse
sich gut Geld verdienen, meint er, wenn man jetzt einsteigt - denn irgendwo
müssten all die Touristen ja übernachten...
Die Nachmittage waren am
schlimmsten. Man trödelte herum und hatte nichts zu tun, und der Hotelmanager
fluchte und hiess uns Messing polieren und leere Flaschen wegräumen...
...sogar nackt baden - was zum Beispiel an der Westküste nicht erlaubt ist,
wegen der vielen Muslims die dort leben. Und auch die Schildkröten kommen nur an
die Ostküste - wenngleich natürlich das Einsammeln der Eier, im Gegensatz zum
Nacktbaden, streng verboten ist - offiziell zumindest.
Ng schreibt mir seine
Heimatadresse auf.
Adieu 'Adler', wir sehen uns nicht wieder!
Werde ihn
'Phönix' nennen.
"Ach, da ist ja der gute alte George! Hallo, George! Wie
geht's denn, alter Knabe?"
"Oh, hallo!" Er flötet sein "Öhü!" und sein
"Häl-löhüh!" noch immer auf gekonnt zierliche, altenglische Art hervor. In
seiner Livrée wirkt er wie der wiederauferstandene Geist einer längst
erloschenen Epoche.
"Ich dachte schon, du hättest deinen Dienst quittiert!"
"Nein, warum auch?"
"Dann bis zum bitteren Ende, was?"
Er verwandelt
sein bittersüsses, gefrorenes Lächeln in eine gummige Grimasse, die sowohl
Zustimmung als auch Verneinung ausdrücken könnte. George in der Rolle des
Fähnrichs, der nach verlorener Schlacht immer noch sinnlos herumsteht - wie der
Musikant auf dem Schiffsdeck, der seine messingnen Uniformknöpfe poliert,
während das Schiff langsam in den kalten Fluten versinkt...
Ng wartet
draussen in der glitzernden Sonne. Ich eile hinaus. Plötzlich wimmelt es von
Menschen überall. Wahrscheinlich Büroschluss.
Ich verstehe von alledem
nichts. Ich werde Fremdsprachen lernen.
Die Busfahrt führt dem See entlang. Meine Lieblingsstrecke. Hier draussen
beginnt der touristische Teil der Stadt.
Freitag, 18. September Spätabends
Kunst, Kunst, Kunst: Was verstehen sie denn schon von der Kunst?!
Es war
falsch, sich aufzuregen vorhin. Es bringt nichts! Kunst ist sublim - nichts für
irdische Kriecher! Weshalb nur wurde ich so wütend?
Wie ironisch das Ganze!
Im Film selbst hatte der 'Produzent' noch gefragt: ob der Zuschauer überhaupt
versteht? Und siehe da: der Zuschauer hat gar nichts verstanden!
Ein
Ehedrama, jawohl! Zwei sich streitende Leute: so verstehen sie das! Und Tom hat
recht: der Film wollte eine andere Botschaft vermitteln, und wir sehen sie
nicht, so hat der Film eben versagt!
Wie recht er hat! Kunst hat schon immer
versagt! Sie beraubt ihren Schöpfer des Lebens, treibt seine Frau in den Tod -
und am Schluss bleibt ein Werk, das niemand versteht...
"Oh, wie ich sie
verstehe, die Götter!" schwärmte der 'Produzent'. Aber Yussuf und Harriet sind
nun mal nicht von der Art, Götter zu verstehen - wozu sich dann streiten? Ich
hätte ihre Einladung annehmen und bei ihnen daheim ein Glas Wein trinken sollen
- aber ich war so wütend, so enttäuscht darüber, dass sie nicht mehr sahen - :
ich wollte und konnte nicht mehr.
Ich beging den Fehler, mich in
Diskussionen einzulassen. Die Kunst ist eine Droge - wie die Religion -, und
darüber spricht man besser nicht.
Sie sind ja sonst so nett: Tom mit seinem
blechernen Pferdegewieher, der besser Auto fährt als diskutiert - und Yussuf und
Harriet: Harriet, die mir die Strandhütte ihrer Eltern versprochen hat, und
Yussuf, der mich morgen ins Konzert einlädt.
Es ist falsch, sich mit ihnen
über einen Blödsinn zu streiten, der niemanden weiterbringt.
Wie eindrucksvoll sie dastanden: Masken der Vergangenheit, Funktionen des
ihnen überschriebenen Symbols. So lebten sie im Kampf der Menschen als ihr
Schicksal - unverwundbar und unsterblich, voller Zorn und voller Liebe - sie
selbst Opfer einer wahnsinnigen Irrfahrt.
Warum Odysseus nicht ans Ziel
gelangte?
Er wollte eben nicht!
Sondern er unternahm eine touristische
Rundfahrt und besuchte mediterrane "Pflichtstücke", die ihm eher zusagten als
die eheliche Pflicht. Und wie per Zufall führte der Weg in die Kunst, weg vom
"Zurück" in die Zukunft der Unsterblichkeit. So bitter einfach ist die
Geschichte - wer soll es wagen, nicht zu träumen?
Alle sollen sie es wagen!
Und doch: die Welt der Kunst ist beschissen. So oder so führt sie erst in
den Tod - und wenn man sich ihr verschliesst, ist es zu spät: die Frau ist weg,
mit dem Produzenten im Bett und mit dem Auto verschwunden - er als Chauffeur,
als Verführer, als entführender Begleiter - früher nannte man das "Freier":
gnädige Frau, ich bin so frei...
Ich folge Odysseus. Es führt kein Weg
zurück. Wohin man geht, es führt kein Weg zurück.
Ich will in Ruhe
herumreisen und touristischen Einblick in menschliches Tun nehmen - ich will
nicht zurück. Ich will nicht kämpfen und nicht töten und nicht morden - ich will
weg, weg vom Leben, weg von der Vergangenheit, von der trüben Erinnerung - ich
will nichts als in Ruhe gelassen werden und friedlich vor mich hinleben dürfen -
das ist nicht viel verlangt; und die Kosten bestreite ich selber.
Wie herrlich ihr Antlitz: zeitlos und unzeitlich, Zeugin einer anderen Welt!
Wie immer sich die Welt verändert: sie ändert sich nicht. Mit blinden Augen
erschaut sie das Schicksal, das ihr die Menschheit beschied.
"Nicht Götter
haben die Menschen geschaffen, sondern Menschen haben die Götter erschaffen!"
Ha! und heute wissen sie nicht mehr darum. Weder erkennen sie sie noch
richten sie sich nach ihnen - sondern fahren rote Coupés und hübsche Frauen
spazieren und enden unter schnittigen Lastwagen - dem eigenen Werk, den
innigsten Werten werden sie untreu und verfolgen ein neues Ziel, mit
rudimentärsten Vorstellungen, worin dieses besteht - nein, das kann der Weg
nicht sein!
Niemand darf so blind durchs Leben irren!
Und dennoch jagen
sie, jagen wir blind durch die Gegend und merken nicht, dass wir stillstehen,
uns im Kreis drehen und keinen Jota, nicht die Idee eines Gedankenstrichs
vorwärtskommen! Insofern liegt Gunst in der Blindheit, im stumpfen Hinsein:
hierhin und dorthin, vorwärts - dahin!
Zu streiten lohnt sich nicht.
Der Weg ist vorgezeigt, die Route vorgegeben - und wer nicht fähig ist, für sich
die eigene Laufbahn vorzuzeigen - na, wie Tom sagt: der hat eben versagt!
Der ist eben nichts wert! Sein Sinn ist nicht sinnig, sein Weg nicht gangbar
- sein Ziel unklar, die Route schlecht gewählt - der ganze Zweck seines
Unterfangens bleibt unverständlich.
Den kann man nur bedauern.
Selig sei, wer seinen Weg kennt.
Selig soll werden, wer da so in der
Gegend umherirrt.
Und selig sollen schliesslich auch all diejenigen werden,
die nicht wissen, wer sie sind, und was zum Teufel sie in dieser Welt überhaupt
TUN.
Samstag, 19. SeptemberDes Nachts
(Zu Übungszwecken: über den heutigen
Abend.)
"Nun, das ist natürlich schwierig," antwortet er verständnisvoll.
"Vor
allem," stimme ich ihm bei, "wenn man sie nicht im Land selbst erlernt hat."
"Aber du beherrschst sie schon ganz gut," findet er; scheinbar meint er es
aufrichtig.
"Nun ja, ich kenne meine Schwächen."
Mein Gesprächspartner
heisst Gerald. Ich unterhalte mich mit ihm, weil wir zufällig auf derselben
Matratze sitzen. Er ist Australier und reiste vor zwei Jahren in Europa herum.
Jetzt studiert er Wirtschaft an der Uni.
Zu trinken gibt's Rotwein. Tom
spielt den Mundschenk. Er gefällt sich in der Rolle.
"Na, komm!" schnödet er
die hübsche Beatrice an, die hinter Gerald auf einer zweiten Matratze sitzt.
"Wie viele Gläser hast du denn getrunken? Du beleidigst mich, wenn du meinen
Wein verschmähst."
Damit beugt er sich selbstsicher zur hübschen Beatrice
hinunter und füllt ihr Weinglas auf. Er ist etwas lauthals, Tom, und von einer
bäurischen Direktheit im Umgang mit anderen.
"Aber ich wollte doch gar
keinen Wein mehr!" jammert die hübsche Beatrice zaghaft, ohne indes damit
verhindern zu können, dass ihr Glas jetzt voll ist.
Die launische Harriet
ist in guter Stimmung, und das mit Recht: Yussuf hat sie nämlich zuerst mit ins
Restaurant genommen (wo sie erst noch alte Kameradinnen traf und sich während
des Essens blendend mit verschiedenen Gesprächspartnern unterhielt) und
anschliessend ins Konzert - wo sie dann als erste Yussufs Vorschlag nachkam, wir
könnten uns doch ganz vorne vor der Bühne auf den Boden setzen statt hinten auf
den billigen Sitzplätzen zu verweilen; in der Folge sass sie mit herausfordernd
erhobenem Kopf vor uns auf dem Boden und quittierte die nachsichtig lächelnde
Zustimmung des Konzertgitarristen souverän mit einem leichten Kopfnicken.
Zunächst war Yussuf nicht gerade erbaut, dass ihm Harriet die Show und den
Abend mit Jane stahl. Aber dann besann er sich eines Besseren und machte gute
Miene zum bösen Spiel. Immerhin durfte er die Tatsache, dass er es geschafft
hatte, gleichzeitig mit Jane und Harriet auszugehen, als Erfolg seiner
taktvollen Diplomatie buchen. Gleichsam zur Krönung seines Triumphes lud er uns
anschliessend nach dem Konzert alle zu sich nach Hause ein, um uns in bester
Laune mit klassischer Musik und australischem Wein zu bewirten.
Eben
unterhält er sich mit Anita über die Musik, die wir heute Abend im Konzertsaal
hörten.
Anita sucht unter den Schallplatten nach einem bestimmten
Albéniz-Stück.
"Da ist sie ja!" ruft sie und hält eine Scheibe hoch. "Jemand
hat sie in den falschen Umschlag gesteckt!"
"Und hier ist auch der richtige
Umschlag!" verkündet Yussuf. "Eine Johnny Cash Platte steckte drin!"
"Das
wirst du gewesen sein," kommentiert Harriet unaufgefordert. "Du weisst, ich höre
mir diesen Cash nie an!"
"Dann bin ich es wohl gewesen," sagt Yussuf und
schaut schmunzelnd zu Gerald und mir rüber, so als wollte er sagen: Habt ihr das
gehört? Also, bitte!
"Spiel doch mal den Cash ab!" schlägt Paul vor. Er ist
eben erst gekommen und sitzt neben Tom auf einem Polstersessel.
"Nein doch!"
fleht Anita. "Zuerst diesen Albéniz! Das Stück ist so wunderschön - ich bin
überzeugt, es wird auch dir gefallen, Paul." Mit dieser hoffnungsvollen
Zusicherung geht sie zum Grammo und legt die Scheibe auf.
Paul macht eine
abschätzige Bemerkung über Gitarrenmusik - er war nicht mit uns im Konzert heute
Abend, sondern kam eher zufällig vorbei, um seinen Freund Tom zu besuchen.
"Siehst du, Paul," spöttelt Jane, die neben mir auf dem Boden sitzt, "heute
musst du dich der kultivierten Mehrheit fügen!"
Anita lächelt zustimmend,
während sie sich zu Harriet auf die Couch setzt.
Ich hatte Jane meinen Sitz
auf der Matratze angeboten - sie war so freundlich gewesen, mich vorher im Auto
abzuholen - aber sie zog es vor, kreuzbeinig auf dem Teppich zu sitzen und mir
den weicheren Sitzplatz auf der Matratze zu überlassen.
"Jetzt, hört!" ruft
Yussuf. "Da kommt es!"
"Diese Legende, von der ihr vorhin spracht?"
erkundigt sich die hübsche Beatrice flüsternd bei Gerald.
"Ja, weisst du,
die zweite Zugabe, die er spielte," erklärt ihr Gerald, auch er feierlich
flüsternd.
Die beiden kamen zusammen ins Konzert. Ich sehe sie heute zum
erstenmal. Beatrice spricht nicht viel. Sie hat ihre Beine angezogen und umfasst
die Knie mit beiden Armen, den Kopf schräg darüber gesenkt, während sie der
Musik lauscht. Zweifelsohne ist sie hübsch. Hübscher als Jane oder Anita. Hübsch
und ruhig und beinahe andächtig, etwas scheu auch: unverdorben. Hoffentlich
heiratet sie bald.
Anita ist auch scheu. Aber sie ist lauter als Beatrice
und manchmal sogar etwas vorwitzig. Leider fühle ich überhaupt nichts mehr für
sie; sie ist eine Figur, wie es sie eben so gibt: ein Gesicht, das man schnell
vergisst. Auch sie erweckt nicht den Eindruck, als käme sie ohne mich nicht
zurecht.
Alle scheinen sie sich von ihrer Schulzeit her zu kennen. Im
Restaurant hörte ich zu, wie sie sich angeregt über gemeinsame Bekannte
unterhielten, von denen ich noch nie gehört hatte; und auch während des Konzerts
konnte ich sie mit Wohlwollen beobachten, wie sie gewandt miteinander sprachen
und sich gegenseitig verstanden.
Die Musik der Gitarre passt ausgezeichnet
zu dieser Gesellschaft. Eine Spur irreal, sanft und zum Teil blumig
verschleiert, zart und rein - sie genügt sich selbst, als wäre das Zuhören
überflüssig.
Man trinkt weiter - Wein und Kaffee, bei Kerzenlicht - man
liegt und sitzt herum, auf Matratzen, Sesseln, auf dem Sofa - man schwatzt und
trinkt, ist unter Freunden - die Luft wird heiss, es ist einem wohl - Yussuf
hält meinen wandernden Blick auf. Er schmunzelt. "Du bist heute so ruhig, Renz?"
"Wirklich?"
"Ja. Sonst stehst du immer im Zentrum und diskutierst über
die wildesten Themen - was ist heute los mit dir?"
"Er hat keinen Wein
mehr!" ruft Anita, etwas übereifert.
"Was, keinen Wein mehr?" ruft Tom und
springt auf die Beine. "Das darf doch nicht wahr sein! Lang mir dein Glas,
Renz!"
"Füll es ihm bis zum Rand," rät Jane in überflüssiger Aufregung.
"Rex braucht etwas, um seine Kehle zu ölen," bemerkt Harriet irgendwie
abschätzig. Sie nennt mich seit jeher Rex.
"Keine Angst, Harriet," gebe ich
zurück, "von deinem Kaffee werden wir später schon noch kosten."
"Du wirst
ja sehen, ob es dann noch welchen hat!" erwidert sie missmutig; als sie vorhin
mit einer dampfenden Kaffeekanne in der Hand in die Runde gefragt hatte, bewarb
sich einzig Beatrice um eine Tasse.
"Und wenn nicht, dann braut uns die
liebe Harriet eben extra noch welchen!"
"Mir kannst du auch gleich
nachschenken!" ruft Paul und reicht Tom sein leeres Glas herüber, bevor sich
dieser wieder setzt.
"Womit unterhältst du uns heute," mokiert sich Anita;
"mit Poesie?" Sie will offenbar andeuten, auf welcher Seite sie im Zweifelsfall
stehen würde.
"Schreibst du Gedichte?" fragt Gerald prompt. Auch die hübsche
Beatrice schaut mit ihren bezaubernden Augen herüber.
"Manchmal schon."
"Worüber denn?"
"Das war doch nur ein Witz!"
"Frag ihn über den
Frühling," schlägt Jane vor - wir hatten uns vorhin im Auto während der Fahrt
ins Restaurant darüber unterhalten.
"Ja, bald haben wir schon wieder
Frühling," lenke ich ab. "Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht. Dann können
wir wieder draussen sitzen und picknicken."
"Da gehen wir wieder an den
Strand!" wirft Paul wie gerufen dazwischen. "Weisst du noch, Tom, letzten
Sommer? Das war irre mit dem Surfen! Ich kann es kaum erwarten!"
"Ja, das
wird euch guttun, dann gibt es hier wieder etwas Ruhe," meint Harriet. Sie
spielt sich auf wie eine gehetzte Mutter.
Ich verstehe Yussuf, wenn er das
Bedürfnis verspürt, sich gelegentlich mit jüngeren Mentalitäten zu erfrischen.
Fragt sich nur, wie lange Harriet sich das bieten lässt. Es war eine Zweckehe
gewesen damals, die es Yussuf ermöglichte, unbehelligt im Land zu bleiben. Auf
diese Idee war Martin nicht gekommen.
"So wie jetzt ist es auch gemütlich,"
meint Yussuf zufrieden. "Wartet, ich hole noch ein paar Kerzen - das gibt eine
bessere Stimmung. Und dann können wir auch das elektrische Licht ausknipsen."
"Au fein!" ruft Anita aus. Sie liebt anonyme Romantik, wo nichts passiert.
"Aber passt auf, dass ihr die Gläser nicht umkippt!" warnt Harriet im
plötzlich verdunkelten Raum.
"Was studierst du eigentlich, Beatrice?" frage
ich Beatrice.
"Geschichte und Psychologie," antwortet sie freimütig.
"Oh," fährt Paul dazwischen, "dann müssen wir also aufpassen?"
"Warum
meinst du?"
"Du weisst schon, diese Psychologen: die glauben doch immer,
unbedingt etwas herausfinden zu müssen."
"Psychologie ist eine ganz normale
Wissenschaft wie jede andere auch," bedeutet ihm Gerold, mit einem Anflug von
Gereiztheit in der Stimme.
"Ich finde sie jedenfalls interessant," ergänzt
Beatrice schlicht, "und ich studiere sie nicht, um bei anderen Menschen etwas
herauszufinden. Schliesslich hat jeder Mensch das Recht, so zu sein, wie er
ist."
Und so wären wir, wie natürlich, bei einem brisanten interessanten
Thema angelangt; das wäre normalerweise mein Einstieg. Nur dass ich heute keine
Lust verspüre: die Gesellschaft ist zu vollständig, es bedarf meiner Anwesenheit
nicht, um das Thema weiterzuverfolgen.
Zudem bin ich müde.
Jane bietet
mir an, mich nach Hause zu fahren. Aber ich ziehe es vor, zu Fuss zu gehen und
mir in der kühlen Nachtluft den leicht schwindligen Kopf durchzuspülen.
Frühling ist nichts für mich!
Ich gleiche dem Blatt, das im Herbst nicht vom Baum fiel.
Möge ein Sturm kommen...
(... und das Blatt hinwegfegen!)
(So, ich glaube, das war insgesamt nicht schlecht.)
Damit ist es beinahe fünf Uhr Sonntag morgens geworden.
Sonntag, 20. September
(Brief an Walter: bedanke mich für das Geld, benötige Lehrstelle erst im
"europäischen" Frühling. - Fanny kam kurz vorbei; intus.)
(Nochmals mit Ng
in der Stadt; übernimmt nun definitiv die Wohnung: ab Dienstag, mit Einrichtung
und allem. In der Stadt waren die Läden geschlossen; Kunststück, an einem
Sonntag. Gingen ins Kino.)
(Harriet deponierte in der Zwischenzeit in meiner
Wohnung den Schlüssel zur Strandhütte. Kommt mir wirklich sehr gelegen.)
(Weigere mich, den Sinn nochmals zu hinterfragen; lästig nur die Fragen der
anderen.)
(Muss schon wieder, heute zum drittenmal - ah! äääng! - und nicht mal richtig
Zeit hat man, sich zu setzen!)
(Habe wohl vom Rattengift geschluckt; oder
bin einfach nervös - äääng!! Und stinken tut's!)
(Dabei habe ich heute noch
gar nichts gegessen!? Muss unbedingt Martin in Kuala Lumpur besuchen - damit ich
endlich wieder mal was Anständiges zwischen die Zähne kriege!)
(Wie war das
noch mit der Verdauung und der Literatur? Da war doch ein Zusammenhang! Hab
schon alles wieder vergessen. Muss in meinen Blättern nachschauen.)
("Was
reinkommt, muss auch wieder raus" - oder so ähnlich.)
Der Mensch ist das Resultat seiner Handlungen. Und so wie der Mensch das
Resultat seiner Handlungen ist, ist die Menschheit das Resultat ihrer
Geschichte.
Das ist Philosophie. Und der Schreiber kommentiert: Wohl dem,
der eine Vergangenheit hat - denn diese gibt ihm zu denken!
Und dann geht er
in sich und denkt: Wozu genau führe ich eigentlich dieses Tagebuch? Um mich an
meine Vergangenheit zu klammern? Wie kam ich überhaupt dazu???
Was
geschrieben ist, IST - schwarz auf weiss; und was IST, ergibt SINN; und wenn ich
mein Leben aufschreibe, ergibt auch dieses SINN - und es ist gut, ein SINNVOLLES
Leben zu besitzen - so hat man etwas HANDFESTES, das man in die NACHWELT
hinüberretten kann - es ist das KIND, welches WEITERLEBT und dafür BEWEIS ist,
dass man EXISTIERT hat!
So denkt er.
Und nachdem er solches gedacht hat,
setzt er sich hin und schreibt nieder: Es ist die Verpflichtung des
Schriftstellers, nur die schönen Seiten seines Lebens aufzuschreiben, damit das
Leben einen schönen Sinn ergibt. Und er hat dafür zu sorgen, dass die anderen
Menschen, mit denen er in Kontakt kommt, ihrerseits ein schönes Leben führen,
damit es sinngemäss in sein Buch passt!
Und nachdem er das erste Blatt
weggeworfen hat, schreibt er weiter: Indem wir schreiben, tragen wir zur
Geschichte bei! Es geht nicht an, dass wir in den Tag hineinleben, ohne ein
Zeugnis unseres Daseins zu hinterlassen! Wir leben - nicht um zu vergessen,
sondern um erinnert zu werden! Wir wollen in rühmlicher Erinnerung gehalten
werden - als jemand, der existiert und insgesamt zur Geschichte beigetragen hat!
Und nachdem er solches geschrieben hat, nimmt er tief Atem und spricht: "Das
Ziel der Menschheit soll es sein, in der Geschichte zu vereinen, was Gott
vertrieb! Machen wir die Welt uns zu eigen, gestalten wir sie nach unserem Plan,
machen wir ein Paradies aus ihr! Uns sei die Welt, sei die Menschheit vereint in
ihrer Geschichte - sei sie sich selber Gott!"
So spricht er - und führt in
Verzückung fort: "Mut, oh ihr gewundenen Därme, Mut, ihr knickfingrigen
Saugnäpfe eigner Verwesung, verdaut eure Kost, entleert eure Höhlen und weht! oh
ihr Winde, ihr trockenen Lüfte, hinaus! - Raus, fette Kröte, geifernder Zahn,
hinweg! - ... und neblig zieht Dämon von dannen!"
So also sein Wahn!
Und
nachdem er sich so ergeben hat, fällt er in sich zusammen und murmelt: "Es werde
Licht!"
Und siehe: es wird Licht!
Und er nimmt das Licht und löscht es
aus, auf dass er schlafen möge.
Damit ist es einmal mehr Morgen geworden.
(Habe kurz durchgelesen, was da oben steht. Der Kerl spinnt natürlich völlig,
der das geschrieben hat.)
(Werde mein Projekt "Phönix" nennen - das war
schon immer ein guter Name. Und das Projekt wird erst mal zurückgestellt, bis
ich mehr Übung habe.)
(Ismael hat übrigens geäussert, dass er fest
entschlossen sei, Trixy zu heiraten - aber erst nachdem er das Studium
abgeschlossen und einen Job gefunden hat. Habe ihn beglückwünscht. Ich selbst
bin mit einer Schreibmaschine verheiratet - das habe ich ihm nicht gesagt.)
(Werde morgen mit Packen beginnen. Und dann buche ich gleich noch den Flug
nach Baucau - es ist wichtig, für die Reise feste Pflöcke einzuschlagen,
Eckpfeiler, nach denen man sich richten kann.)
(Ich muss, ich muss, ich halte das nicht mehr aus! - ah! äääng!! - und schon
kracht's wieder, ein richtiger Urknall diesmal, aus dem Arschloch des Alls!
Gott, hat der eine Verdauung!)
(Herr, scheisse mich an, lass deine Kotz über
mich kommen - damit es was zu schreiben gibt!)
Montag, 21. September
(Alles verpackt, was ich mitnehmen will; den Rest überlasse ich Ng.)
(Bin
nervös: als Fremder in der eigenen Wohnung.)
(Theatralik als einzig
möglicher Bewusstseinszustand; Vergessenheit als erste Lebensbedingung.)
(Vielleicht doch ein anderer Name?)
Alle Formalitäten erledigt; Ng hat den Mietvertrag unterschrieben.
Die
Landlady wusste nicht recht, ob sie den Wechsel begrüssen oder bedauern sollte;
jedenfalls wünschte sie mir alles Gute. Die jungen Leute, meinte sie, müssten
die Welt sehen, das sei schon in Ordnung.
Meinerseits verbürgte ich mich für
Ng: ein sauberer Bursche - mit soliden Absichten und einer sicheren Zukunft.
(Definitiv morgen früh: per Bus, um 09.30 Uhr.)
(Werde ein Taxi nehmen
zur Busstation; will niemanden um den Gefallen eines Transfers bitten. Die
sollen jetzt studieren.)
(Der Flug ist gebucht; habe ihn nochmals
telefonisch rückbestätigt beim netten Fräulein auf dem Campus. Das Ticket wird
sie mir postlagernd zustellen - bezahlt ist es.)
Auf dem Weg zum College: begegnete den beiden Putzfrauen, die mein Zimmer zu
reinigen pflegten.
"Hallo!" rief mir die ältere strahlend zu. "Ich erinnere
mich an dich: Du warst doch letztes Jahr bei uns?"
Ich erkundigte mich nach
Chapong.
"Der Ärmste! Und das mitten im letzten Trimester!" Wahrscheinlich
hätte alles mit Kopfschmerzen begonnen: einmal habe sie Kopfwehtabletten in
seinem Zimmer gesehen. "Viele Leute vertragen eben das Frühlingswetter nicht!"
Ich konnte ihr nur zustimmen.
(Verpacke meine "losen Blätter"; wollte sie zuerst wegschmeissen. Vielleicht
werde ich sie aufbewahren und vereinzelt noch verwerten. "Gebündelt" ergäben sie
einen richtigen Frühlingsstrauss.)
(Dachte an die James-Story und worin das
Wesentliche liegt. Im Sinne einer Übung wird es darum gehen, einen homogenen
Stoff zusammenhängend darzustellen. Dies sollte machbar sein.)
Ismael hatte eben fertig zu Mittag gegessen und las im Aufenthaltsraum
Zeitung. Auf seine milde Art zeigte er sich erfreut über meinen Besuch.
"Bruder - wie geht's?"
So hatte er mich noch nie begrüsst.
Ich
setzte mich neben ihn, nahm ihm die Zeitung aus der Hand und blätterte darin
herum: sie bot nichts ausser den Witzen.
Dann sassen wir da und schauten den
jungen Studenten zu, wie sie nacheinander, vereinzelt oder in Gruppen aus der
Mensa traten und sich etwa nach einer Zeitung oder ihrer Post umschauten oder
einfach herumschlenderten oder gemächlich zum Hof hinaus zu ihren Wohnquartieren
hinüberspazierten.
Auch Albert (er hatte im Speisesaal mit Hassan an einem
Tisch gesessen) kam herüber und pflanzte sich breitbeinig vor uns hin und
steckte dazu die Daumen in den Gürtel, so als spielte er in einem Western.
"Hallo, Renzie-Boy!" schnodderte er mich an, "du hast dich aber hier schon
lange nicht mehr blicken lassen, was?"
Ich reichte ihm die Zeitung.
Durch die Glastür zum Speisesaal sah ich, wie Hassan ebenfalls seine
Mahlzeit beendete; aber dann trat er, so als hätte er's eilig, vom Speisesaal
direkt in den Hof hinaus, anstatt Albert in den Gesellschaftsraum zu folgen.
Albert wollte etwas: zuerst wollte er per Bus an den Strand hinausfahren, um
ein erstes Sommerbad zu nehmen; dann schlug er vor, eine Tasse Kaffee auf dem
Campus zu trinken; und schliesslich bat er mich um einen Dollar für einen
dringlichen Telefonanruf.
Nachdem ich ihm alles abgeschlagen hatte,
schlurfte er mit seinen schmutzigen Füssen zum Billardtisch hinüber.
Wir
blieben noch eine Weile sitzen. Es war, als hielte uns eine plötzliche Müdigkeit
an unseren Sesseln fest; dabei ging es nicht einmal darum, endgültig Abschied zu
nehmen.
Die Zeit lief ab. Und es ergab sich kein Grund, Ismaels Hand in die
meine zu nehmen.
(Die Frage der Begabung oder der Eignung stellt sich nicht; auch weiss ich
nicht, was es zum "Schreiben" braucht. Ich habe etwas zu tun, muss etwas
schreiben - damit hat es sich.)
(Was ich weiss: dass ich nicht anders kann.
Es ist das einzige, was bleibt, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft sind.)
Diesmal ist es Miung. Er kommt aus dem alten Grund: Unterhaltung. Ihn habe
ich am wenigsten erwartet.
Er nimmt auf dem Sessel neben dem Bett Platz. Ich
sitze auf dem Sofa - vor dem kleinen runden Sofa-Tischchen - mit der
Schreibmaschine vor mir. Es ist, als ob ich mich anschickte, Miungs Besuch zu
protokollieren.
Nach dem dritten Glas Portwein taut er endlich auf, und er
beginnt, sich über Francis und Hassan zu ereifern.
"Für Drogen und
Nachtclubs haben sie immer Geld!" beklagt er sich. "Sie sind wirr im Kopf! Sie
haben schon alles versucht - nun langen sie nach dem höchsten! Aber eines musst
du wissen, Renzie: an alledem bist du schuld!"
Dabei fixiert er mich mit
theatralischer Strenge und richtet dazu den erhobenen Anklagefinger auf mich,
sodass ich unwillkürlich lachen muss. Mit seinem chinesisches Vollmondgesicht
wirkt er zu komisch, wenn er sich ereifert.
"Nein, wirklich, Renzie; ich
meine es ernst!" sagt er unbeirrt. "Erst durch dich ist er überhaupt auf den
Genuss von Alkohol gekommen - und erst durch dich wurde er in die ganzen
Sexgeschichten hineingezogen!"
Schön, dann trage ich die Schuld. Die Frage
der Schuld ist mir neu; sie wird hier nicht gestellt.
Miung geht. Auf seinem
Sessel hinterlässt er gleichsam eine "vertiefende Erinnerung", wo er gesessen
hat.
Spuren des Lebens.
Ich werde die Spuren verwischen. Mit der Spur
erlischt die Schuld.
Dienstag, 22. September
Also dann: Ade! Gehen wir dahin!
Dies nun also der Tag, dies der Tag
meines Abgangs!
Gut! So schliesst - dies Tagebuch - was einst, mehr recht
denn rechtens, als Übung (und hier!) begann; na ja - und dann: folgt der Zauber,
die Kunst, die Magie des Fakirs: SCHWUBBEDI-WUPS! - und neu die Welt, dem Tod
entronnen, zu frisch verjüngtem Bild entsteht!
Dazu die Schreibmaschine
hier: mit Bus- und Flugbillet, nebst Strandhüttenschlüssel und diversen
Gepäckstücken - alles bereit, den Schritt auf die Dielenbretter, die steile
Holztreppe hinunter auf die Strasse hinaus zu tun!
Auf denn, gereist! Davon,
ans Meer!
Mit der Adresse im Sand - mit dem neuen Wohnort in den Wind
gehievt - durchziehen wir kreuz und quer die ganze Welt, besuchen touristische
Stationen, bei Freund und Feind, nach geziemenden Sitten - wie's uns gefällt.
Koffern, Taschen, Kleingeld - bereit! Die Noten: abgezählt!
Etwas mulmig
wird mir schon.
Praktisch war das Tagebuch: gestalten mochte man, gewichten,
Themen auslassen, dazufabulieren, Seiten austauschen, Chronologien biegen...
Adieu denn, rundes Schreibtischchen; lausige Wohnung: ade!
Ade, ihr
Leute von Perth; ich werde euer Lied singen! Eure Farbe werde ich sein, und der
Duft eurer Blumen, die Luft, die ihr atmet, die Tiere und Klänge, die Berge -
Eure Götter werde ich sein, eure Bräuche, die Stimme eurer Ahnen - als Zeuge
eurer Geschichte (der verschlüsselten Riten), die sich im Kreis schliesst!
Jetzt gilt's, die Stunden abzuzählen, die Zeit zu zermalmen - bis zum
endgültigen Schlusspunkt!
Und zu klimpern hat es, nicht wahr, alte
Klimperkiste?
(... tipi-tipi-tip!...)
Schon recht! - und vielblättrig
aus Knospen zu spriessen -
(...Raschel-Raschel!...)
- wie zur Urzeit
eines erspriesslichen Urwalds.
Auf denn, Veumier, hinweg!
Und Schritt um
Schritt, Wort für Wort: FORT!